Roerich Gesellschaft Deutschland e.V.

 
 

Uwe Betjen

Nikolaj K. Roerich - Eine Kurzbiographie


Nikolaj Konstantinovič Rerich (Roerich) wurde am 27. 9. (10. 10.) 1874 in St. Petersburg als Sohn des Juristen Konstantin Fedorovič Rerich und dessen Ehefrau Mar’ja Vasil’evna geboren. Die Familie, zu der noch drei weitere Kinder gehörten, Lidija, Vladimir und Boris Rerich, lebte in der Vasil’evskaja chast’, Universitetskaja naberežnaja 25, nahe ehrwürdiger kultureller Institutionen des Zarenreiches wie der Akademie der Künste und der Universität. Die Roerichs zählten zur angesehenen und wohlhabenden Petersburger Gesellschaft, und Vater Konstantin Roerich war sicher, dass dereinst sein Sohn nach erfolgreich abgeschlossenem Studium der Rechtswissenschaften die Notariatskanzlei übernehmen würde.

Doch schon bevor er 1883 in das berühmte Gymnasium des Karl Ivanovič Maj eintrat, zeigte Nikolaj Konstantinovič Roerich reges Interesse an der Geschichte Russlands, seinen Sagen, Märchen und Liedern. Roerichs Mitschüler waren Aleksandr Blok und Aleksandr Benua (Benoir), die es später in der Literatur und Malerei Russlands zu grossem Ansehen bringen sollen. Das Maj-Gymnasium bildete die Keimzelle, aus der in den ausgehenden 90er Jahren bis in die erste Dekade des 20. Jahrhunderts zahlreiche, personell eng miteinander verflochtene Künstlergruppierungen – u.a. der Mir iskusstva – hervorgingen, die das kulturelle Leben Russlands entscheidend mitprägten.

Der Weg Nikolaj Konstantinovič Roerichs schlug frühzeitig eine andere als die vom Vater erwünschte Richtung ein, denn unter Führung des Pädagogen Maj zog es der junge Roerich vor, seine Fähigkeiten vor allem in musischen und historischen Fächern auszubilden. Er verfasste erste historische Balladen und wirkte als Schauspieler und Bühnenmaler in der Theatergruppe seiner Schule mit. Wie die meisten Gymnasiasten seiner Zeit schwärmte auch Roerich von Abenteuerreisen um die Welt, von Expeditionen durch wilde Dschungel oder phantastischen Reisen zu anderen Planeten.

Die Sommermonate verbrachte die Familie auf dem Landgut Izvara, dessen Name vom vorherigen Besitzer des Anwesens, Graf Voroncov, stammte und eine Ableitung aus derm Sanskritwort für Herr oder Gebieter sein kann – Voroncov soll dieses Wort auf einer Reise durch Indien kennengelernt haben.  

Auf dem Landgut lernte Nikolaj Konstantinovič als Neunjähriger den Archäologen L. Ivanovskij kennen, mit dem er Ausflüge zu den nahegelegenen Hügelgräbern aus der vorchristlichen Zeit Russlands unternahm. Schon 1892 führte Roerich unter Leitung der Archäologischen Gesellschaft Ausgrabungen in der Nähe von Carskoe Selo durch. Beeindruckt von den Wanderungen durch die nordrussische Waldlandschaft schrieb Roerich in den frühen neunziger Jahren Aufsätze über die Flora und Fauna im Gouvernement Petersburg, die in den Journalen Russkij ochotnik und Priroda i ochota veröffentlicht wurden.

Wege zur Malerei

Um einen drohenden Konflikt mit seinem Vater zu vermeiden, der den bisherigen Werdegang seines Sohnes mit Sorge verfolgt hatte, beschloss N. K. Roerich, sich 1893 sowohl an der juristischen Fakultät der Petersburger Universität als auch an der Akademie der Künste einzuschreiben. Die Situation an der Akademie charakterisierte er später in seinen Listy dnevnika (Tagebuchblätter) wie folgt:  

Unserer Generation war es vergönnt, zwei Epochen der Akademie kennenzulernen. Wir begannen die Arbeit bei den alten Professoren, z.B. Villeval’d, Šamšin, Podozerov, Lavreckij, Požalostin, und vor uns, vor unseren Augen wurde die Reform vollendet. Die Peredvižniki kamen. (Listy dnevnika, S. 90)  

Die alte Akademie ging zu Ende. Neue Professoren kamen. Es ergab sich ein Problem: zu wem sollte man gehen – zu Repin oder zu Kuindži? Repin lobte Skizzen, (…) „Gehen wir lieber zu Kuindži.“ Auf, gehen wir. (Listy dnevnika, S. 88)  

Die Entscheidung, die Roerich damals treffen musste, bedeutete mehr als nur die Wahl eines Lehrers. Repin und Kuindži stellten die Repräsentanten zweier unterschiedlicher Orientierungen der russischen Malerei innerhalb der neu organisierten Akademie dar.  

Repin stand für die Ausrichtung der bildenden Kunst auf soziale Themen. Die Themen seiner Gemälde waren konkrete Lebenssituationen aus dem Alltag der Menschen – ganz im Sinne der Peredvižniki-Bewegung. Vor die eigentliche Malerei setzte Repin die detailgetreue, realistische zeichnerische Studie.  

Kuindži hielt hingegen weniger an traditionellen Anschauungen und an der Verbindung von Kunst und gesellschaftlicher Wirksamkeit fest. Sein bevorzugtes Interesse richtete sich auf die Landschaftsmalerei. Hier stand – gegenüber der realistischen zeichnerischen Vorstudie – der relativ freie, impressionistische, oft dekorative Umgang mit Formen und Farben im Vordergrund des bildernischen Schaffens.

N. K. Roerichs favorisiertes Genre sollte nicht allein die Landschaftsmalerei bleiben. Trotz seiner Ausbildung als Künstler und Jurist hatte er sein Interesse am Historischen niemals vernachlässigt. Im Jahre 1898 begann er, nachdem er an der Juristischen Fakultät das Staatsexamen erfolgreich abgeschlossen hatte, Vorlesungen für Geschichte und Archäologie zu hören. Roerich versuchte, die unterschiedlichen Studieninhalte miteinander zu verbinden: so lautete denn das Thema seiner historisch ausgerichteten juristischen Abschlussarbeit: Pravovoe položenie chudožnikov Drevnej Rusi (Die rechtliche Lage der Künstler in Alt-Russland).

Die Diplomarbeit an der Akademie der Künste wurde 1897 vollendet. Das Gemälde trug den Titel Gonec (Der Bote). Ursprünglich war es als Teil eines neun Bilder umfassenden Zyklus unter dem Titel Slavjane i varjagi. Iz kul’turnoj žizni novgorodskih slavjan konca IX. veka (Slawen und Winkinger …) gedacht, der thematisch der slavischen Frühgeschichte gewidmet sein sollte. Die Fahrten der Wikinger auf den russischen Strömen vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, deren Begegnungen mit der einheimischen Urbevölkerung und die Gründung neuer Siedlungen und Städte sollten in einem breitgefächerten Panorama dargestellt werden.

Roerich führte dieses Konzept jedoch niemals aus, obwohl bis in die erste Dekade des neuen Jahrhunderts unzählige Werke entstanden, die mehr oder weniger eng mit dem Thema der russischen Frühgeschichte verbunden waren, z.B. Zamorskie gosti (Gäste von Jenseits des Meeres) (1902), Slavjane na Dnepre (Slawen auf dem Dnepr) (1905), oder Idoly (Idole) (1901). Durch seine Diplomarbeit Gonec erlangte N. K. Roerich Anerkennung weit über die Petersburger Kunstszene hinaus. In seinen Listy dnevnika (Tagebuchblätter) erinnerte er sich:

Tret’jakov kam auf eine Wettbewerbsaustellung. Für Moskau schlug er vor: Ruščic, Purvit und meinen „Boten“. Man hegte hohe Erwartungen. Schliesslich tritt Tret’jakovskij an mich heran: „Verkaufen Sie den ‘Boten’ für 800 Rubel?“ Er kostete aber tausend. (Listy dnevnika, S. 86)  

Durch Vermittlung des Kunsthistorikers und Kritikers V. V. Stasov erhielt Roerich eine Anstellung als Dozent für slavisch-russische Paläographie am Archäologischen Institut der Petersburger Universität.  

Impressionismus und Symbolismus

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts erfüllte sich N. K. Roerich einen langgehegten Wunsch. Er reiste nach Paris, in die Hauptstadt der europäischen Malerei, wo sein Bild Schodjatsja starcy (1898) zusammen mit Gemälden Repins und Vasnecovs ausgestellt wurde. Von den Malern des französischen Impressionismus und Symbolismus hinterliess besonders Pierre Puvis de Chavannes einen starken Eindruck. In einem Brief aus Paris schrieb Roerich an seine zukünftige Gattin Elena Ivanovna Šapošnikova :

Ich erinnere mich nicht, ob ich Dir von Puvis de Chavannes schrieb. Je mehr ich seine Arbeiten betrachte, je mehr ich über seine Arbeitsmethoden und Gewohnheiten erfahre, desto mehr bin ich über die grosse Ähnlichkeit mit Vielem, was von mir stammt, erstaunt. (Zitiert nach Alechin, S. 41)  

N. K. Roerichs stilistische Orientierung am französischen Impressionismus geht besonders aus seinen in Paris entstandenen Skizzen und Gemälden hervor. Seit dem Aufenthalt in Frankreich ist eine Veränderung im Hinblick auf die Farbgebung festzustellen. Die früheren Gemälde Roerichs zeigen noch verschieden grosse Farbtupfer, die ineinander verfliessen und Farbmischungen hervorrufen können. Um 1901 bilden sich zwei unterschiedliche Methoden der Kolorierung aus: einerseits dominieren aquarellartige Techniken zur Schaffung eines besonders effektvollen Spiels von Licht und Schatten. Gemälde dieser Art sind meist Ton-in-Ton gehalten; andererseits fertigt Roerich Bilder an, die eine bunte Palette leuchtender Farben aufweisen, wobei Mischungen vermieden werden.Die Farben werden zum Teil in durch dunkle Umrisszeichnung voneinander abgetrennten Flächen aufgetragen. Diese Technik lehnt sich an die Praxis der byzantinisch-russischen Ikonenmalerei bzw. an die folkloristisch-ornamentale Holzschnitzkunst (russkij lubok) russischer Bauern an. Das Studium der Entwicklung russischer Ikonenmalerei war erst seit Beginn des 20. Jh. möglich, die systematische Restaurierung der ursprünglichen Farb- und Liniengebung der Ikonen setzte nach der Revolution von 1917 ein.

In den Jahren von 1902 bis 1905 wurde Roerich zu einem der bekanntesten russischen Maler auch ausserhalb des Zarenreiches. In Moskau veranstaltete die Künstlergruppierung Mir iskusstva(Welt der Künste) im November 1902 eine Ausstellung mit Gemälden von M. A. Vrubel’, F. A. Maljavin, K. A. Somov und N. K. Roerich. Im Rahmen einer Ausstellung von Interieurs und Möbeln, die von A. N. Benoir, L. Bakst und K. A. Korovin entworfen wurden, waren in Petersburg zu Beginn des Jahres 1903 auch Gemälde von N. K. Roerich zu sehen. Im Dezember des selben Jahres fand die Gründungsversammlung des Verbandes russischer Künstler statt, zu dessen ordentlichen Mitgliedern Roerich zählte. Zwei Monate später eröffnete in den Sälen des Obščestvo pooščrenija chudožestv (Gesellschaft zur Förderung der Künste) eine Ausstellung mit Arbeiten von N. K. Roerich, die grösstenteils Studien zu altrussischen Kulturdenkmälern umfassten.

Kurz darauf schickte Roerich 75 Architekturstudien auf eine Reise in die Vereinigten Staaten, die zu einer mehr als siebzig Jahre andauernden Irrfahrt werden sollte. Roerich erinnert sich:  

Alle erinnern sich daran, als 1906 in Amerika auf einer Zwangsversteigerung aufgrund der Schulden des Kommissionärs der Austellung Grjunval’d 800 russische Bilder verkauft wurden. Darunter Repin, die Brüder Makovskij, Musatov und viele weitere bekannte Maler. So blieb es bis heute unbekannt, wohin die grosse Mehrzahl der Arbeiten verstreut wurde. Von mir waren in dieser Masse fünfundsiebzig Skizzen des russischen Altertums und die Gemälde „Schodjatsja starcy“ und „Pskov“. Ein Teil davon kam in ein Museum in Kalifornien, doch 25 Stücke verschwanden spurlos. Es wird gesagt, dass sie irgendwo in Kanada seien. Auf einer der gelegentlich stattfindenden Auktionen in London konnte ich zwei Bilder von Verešagin sehen. Man fragt sich, wo sich seine ganze indische Serie befindet. (Listy dnevnika, S. 137)

Bei dem hier erwähnten kalifornischen Museum handelte es sich um die Piedmont Art Gallery in Oakland. Ein Mitglied des Roerich Museum, New York entdeckte die Sammlung der Gemälde Roerichs und kaufte sie auf. Bis 1976 wurden die Bilder im New Yorker Roerich-Museum aufbewahrt, danach überliess man sie dem Muzej iskusstva narodov Vostoka in Moskau.

Neben zahlreichen pädagogischen und organisatorischen Aufgaben – 1906 erfolgte Roerichs Ernennung zum Direktor der Schule der Gesellschaft zur Förderung der Künste, 1909 die Aufnahme in die Petersburger Akademie der Künste, 1910 die Wahl zum Präsidenten des sich neu formierenden Mir iskusstva – entfaltete er künstlerische Aktivitäten auf den unterschiedlichsten Gebieten. Dabei zeichnetete sich eine Vorliebe für monumentale Malerei ab, die ihre Wurzeln schon zu Beginn des Jahrhunderts in der intensiven Auseinandersetzung mit der sakralen Malerei hatte. Zusammen mit I. E. Repin, K. A. Korovin, M. A. Vrubel’ und S. V. Maljutin arbeitete Roerich an Entwürfen für die Einrichtung von Nutz- und Wohngebäuden, Kirchen und Kapellen, z.B. für die 1910 ausgestattete Gutskapelle der Gräfin Tenyševa in Talaškino. Ausserdem nahm Roerich an der Restaurierung der Kapelle der Familie Kaminskij in Perm’ (1904) und der Kirchen in Porchomovka und Šlissel’burg (1906) teil. Hier konnten die Künstler in unmittelbarem Kontakt mit Handwerkern direkte Erfahrungen aus der russischen Volkskunst sammeln.

Malerei auf der Bühne

Roerichs Monumentalismus fand ausser in der Wandmalerei auch im Rahmen von Kostümentwürfen und Bühnenmalerei seinen Niederschlag. Bereits 1912 hatte er Skizzen für Dekorationen zu R. Wagners Walküre angefertigt, die jedoch wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht mehr zur Aufführung gelangte. Erst die Dekorationen für Bühnenstücke im Stile europäischer Kirchen- und Mysterienspiele und die Entwürfe für das von Sergej Djagilev organisierte ballett russe – u.a. Aleksandr Borodins Polovetzer Tänze aus Knjaz’ Igor – erregten den Beifall eines internationalen Publikums.

Djagilev arrangierte ein Treffen zwischen N. K. Roerich und I. F. Stravinskij in der Absicht, den Maler und den Komponisten für gemeinsame Arbeiten gewinnen zu können. Roerich berichtete Stravinskij von einem eigenen Entwurf einer Ballettszene mit dem Titel Velikaja žertva(Das grosse Opfer). Es handelte sich um die Darstellung eines alten heidnischen Rituals, in dessen Verlauf dem Sonnengott Jarilo ein junges Mädchen geopfert wurde. Stravinskij schien begeistert. Im Verlauf des Jahres 1911 arbeitete er mit Roerich, der Bühnenbild und Kostüme entwarf, ein um einen Akt erweitertes Libretto aus, das am Ende unter Mitwirkung des Choreographen V. F. Nižinskij in dem Ballettwerk Svjaščennaja vesna bzw. Le sacre du Printemps aufging. Der Behauptung, Stravinskij habe Le sacre du Printemps geschrieben, tritt Roerich 1939 in einem Text Zaroždenie legend, erschienen in der Zeitschrift Segodnja (15. V.) [Riga], entgegen:

Es heisst, Stravinskij habe die Idee für sein Ballett (‘Svjaščennaja vesna’) in einem Traum erhalten, der ihm 1900 in Petersburg erschien. Er sah ein Ballett, ein grossartiges, wie eine Skulptur, wie eine steinerne Statue, wie eine ungewöhnlich gradiose Figur. Daher wird verständlich, weshalb für die Herstellung der Dekorationen ausgerechnet Roerich berufen wurde, ein Maler von neolithischer Phantasie.’ Ich weiss nicht, wann und welche Träume Stravinskij hatte, doch eigentlich verhielt es sich wie folgt: 1909 kam Stravinskij zu mir, und schlug vor, gemeinsam ein Ballett zu erarbeiten. Nachdem ich es mir überlegt hatte, legte ich ihm zwei Ballettwerke vor: ‘Vesna svjaščennaja’ und ‘Šachmatnaja igra’. Das Libretto für ‘Vesna svjaščennaja’ blieb, bis auf wenige Kürzungen, so, wie es 1913 in Paris erschien. (Listy dnevnika, S. 156f.)

Die Uraufführung des Balletts am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Elysées endete in einem furiosen Skandal. Es lag wohl an der grausamen, barbarisch anmutenden Opferszene, in der sich ein junges Mädchen zu Tode tanzt, und vor allem an der für damalige Hörgewohnheiten allzu wilden, ekstatischen Musik Stravinskijs, dass die Zuschauer empört von ihren Plätzen aufsprangen, und das, was sich ihnen auf der Bühne darbot als „Hottentotten-Musik“ bezeichneten.

Frieden durch Kultur

Ein Jahr später fielen in Sarajevo die Schüsse, die für die Regierungen der europäischen Grossmächte Anlass waren, den sich seit langem abzeichnenden Krieg nicht mehr verhindern zu wollen. Auf die Nachrichten vom Verlauf des mit modernen Vernichtungswaffen ausgetragenen Konfliktes reagierte Roerich mit Entsetzen. Vor allem die Vernichtung von Kulturdenkmälern durch die deutsche Kriegsmaschinerie erregte seinen engagierten Protest. Nachdem er von der Bombardierung der gotischen Kathedrale in Loewen erfahren hatte, schrieb er:

Und nicht nur die Armee ist zu beschuldigen. Ich beschuldige jene Menschen, die sich in Deutschland dünken, Bewahrer der Kunst zu sein. Ich spreche nicht über den Kaiser, der sich selbst mit dem Götzenbild auf der „Allee des Sieges“ ein Attestat für schlechten Geschmack ausstellte, sondern über jene eingebildeten, bis zur Niedertracht gierigen Berater. (Zitiert nach Poljakova, S. 173)  

Nicht minder bewegte ihn die Sorge um den Schutz russischer Kulturdenkmäler während der Tage der Revolution in St. Petersburg. Im März 1917 schlossen sich M. Gorkij, A. Benoir, M. Fomin, N. K. Roerich und weitere Künstler zusammen und verfassten nach den ersten verheerenden Ausschreitungen einen engagierten Aufruf an alle Bürger, der in der Izvestija und auf Plakaten veröffentlicht wurde:

Bürger, die alten Herren sind fort, sie hinterliessen ein riesiges Erbe. Es gehört nun dem ganzen Volke. Bürger, bewahrt dieses Erbe [...] bewahrt die Bilder, Statuen und Gebäude – diese Verkörperung eurer und eurer Ahnen geistiger Kraft [...] Bürger, rührt nicht einen einzigen Stein an, [...] – alles das ist eure Geschichte, euer Stolz. Bedenkt, dass alles ist die Grundlage, auf der eure neue nationale Kunst emporwächst. (Zitiert nach Poljakova, S. 208))

Die Unterzeichner des Aufrufes gründeten eine Komissija po delam iskusstv (Kommision für Kunst-Angelegenheiten), die von A. Benoir geleitet wurde und ein organisatorischer Grundstock für ein künftiges Ministerium werden sollte. Roerichs kulturpolitischer Konservativismus fand wenig Gehör und stand in offenem Widerspruch zu anderslautenden Stimmen, z.B. aus den Reihen der russischen Futuristen, die ausser der Beseitigung des alten Regimes auch die allumfassende Erneuerung der russischen Kultur anstrebten.

Von der Oktoberrevolution erhielt Roerich Kunde, als er bereits im benachbarten Finnland lebte und Pläne für eine Reise nach Indien fasste. In der zweiten Hälfte des Jahres 1918 verliess er Karelien. Nach Aufenthalten in Stockholm und Kopenhagen erreichte die Familie im Herbst 1919 die britische Hauptstadt. In London trafen sie den anglo-indischen Schriftsteller Ranindranath Tagore, dem 1912 der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war.

Tagore lud die Roerichs nach Indien ein, doch zwangen finanzielle Probleme zum Aufschub der Reise. Zunächst begab sich Roerich mit seiner Frau und den beiden Söhnen in die USA. Im Oktober 1920 kamen sie in New York an. Von dort aus schickte Roerich seine Gemälde auf Ausstellungen in 28 nordamerikanische Städte, z.B. nach Boston, Chicago, Denver und San Francisco. In New York gründete er 1921 das Master Institute of United Arts – eine Schule, in der alle Kunstrichtungen unterrichtet werden sollten und an der Roerich selbst bis 1923 als Lehrer tätig war. 1922 rief er die Organisation Corona Mundi ins Leben, deren Hauptanliegen die Völkerverständigung mit Hilfe der internationalen Sprache der Kunst war. Im Jahre 1923 wurde – ebenfalls in New York – das Roerich-Museumgegründet, das in den 30er Jahren einen Bestand von mehr als 1000 Gemälden Roerichs aufweisen konnte.

Der Erlös aus dem Verkauf von Bildern sowie die Einnahmen aus dem Institut, aus Ausstellungen und aus dem Museum ermöglichten den Roerichs schliesslich 1923 die Reise, die sie über Paris nach Bombay führte. Sie besuchten die bekanntesten Kulturstätten Indiens und kamen im September 1924 in Darjeeling an, wo sie sich ein Haus mieteten. Hier wurden die Vorbereitungen für eine grosse Expedition durch Zentralasien getroffen. Deren Route sollte, von Srinagar ausgehend, durch Tibet und China, durch den Altai bis in die Mongolei, und von dort zurück in den Himalaya führen. Zur Überschreitung der russischen Grenzen in Mittelasien musste Roerich die Genehmigung der sowjetischen Behörden einholen. Zu diesem Zweck und zur Sicherung weiterer finanzieller Mittel reiste Roerich im Herbst 1924 in die USA und nach Europa.Im März des folgenden Jahres begab sich Nikolaj Konstantinovič Roerich mit seiner Frau und seinem Sohn Jurij nach Srinagar, in die Hauptstadt Kaschmirs. Hier begann eine Expedition, in deren Verlauf die Roerichs ca. 24000 Kilometer zurücklegen, fünfunddreissig der höchsten Bergpässe der Welt überqueren und nach drei Jahren, im Mai 1928, nach Darjeeling zurückkehren sollten.

Zur Auswertung und Dokumentation des während der Expedition gesammelten archäologischen, linguistischen und historischen Materials und zur Fortführung seiner Studien gründete Roerich nach seiner Rückkehr im Tal von Kulu das Himalaya-Forschungsinstitut Urusvati. Die Bemühungen N. K. Roerichs zum Schutz von Kulturdenkmälern während des Ersten Weltkrieges und während der Revolution von 1917, die in den zwanziger und dreissiger Jahren gegründeten Organisationen zum Schutz und zur Bewahrung der Kulturen aller Völker, die Leistungen, die Roerich während der Asienexpedition erbrachte, und nicht zuletzt sein künstlerisches Werk hatten ihm zu weltweitem Ansehen verholfen, so dass 1929 in der amerikanischen Presse folgende Mitteilung zu lesen war:

Roerich für den Friedenspreis nominiert (...) Zu den Namen, die der Nobelkommission für den Friedenspreis (...) vorgelegt wurden, gehören die Namen des US - amerikanischen Sekretärs Kellogg, des französischen Senators Jouvenel, des ehemaligen Premierministers Ramsay MacDonald von Großbritannien und ehemaliger Ministerpräsident Herriot von Frankreich (...) Soweit bekannt, ist dies das erste Mal, dass ein Künstler und Wissenschaftler aufgrund seiner Bemühungen um internationalen Frieden durch Kunst als Kandidat für den Friedenspreis nominiert wurde und Kultur haben zu einem besseren Verständnis der internationalen Beziehungen geführt. (...) (New York Times, 3. März 1929)

N. K. Roerich wirkte als Jurist massgeblich an der Formulierung des Entwurfes für einen internationalen Vertrag mit, der 1930 dem Völkerbund vorgelegt und 1935 u.a. von den U.S.A., Brasilien und Argentinien unterzeichnet wurde, bevor schliesslich 1954, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, eine entsprechende internationale Konvention in Den Haag unterzeichnet werden konnte.  

Die letzten beiden Jahrzehnte seines Lebens verbrachte Roerich grösstenteils in Asien. Er bereiste den gesamten indischen Subkontinent, die Mandschurei, die Mongolei und China. In der Zeit zwischen den ausgedehnten Reisen hielt sich die Familie auf ihrem Anwesen in Kulu auf, wo N. K. Roerich am 15. Dezember 1947 im Alter von 73 Jahren entschlief.  

 

Verwendete Literatur 

— N.K. Rerich: Žizn´ i tvorčestvo. Sbornik statej. Moskva 1978.

— N.K. Rerich: Listy dnevnika. In: Kuz‘mina, M.T. u.a.: N.K. Rerich. Iz literaturnogo nasledija. Moskva 1974.

— Alechin, A. D.: Tvorčeskij metod N. K. Rericha. In: Kuz‘mina, M.T. u.a.: N.K. Rerich. Iz literaturnogo nasledija. Moskva 1974.

— Poljakova, E.: Nikolaj Rerich. Moskva 1985.

— Knjazeva, V.P.: Nikolai Konstantinovic Rerich 1874-1947, Moskva 1963.