Hermann Weins Manuskript:
(134 Schreibmaschinenseiten, geschrieben zwischen 1979 – 1981)
Stilistisch überarbeitet, gekürzt ohne Einbuße des Aussagegehalts und mit Zwischenüberschriften versehen
von Dieter Miosge, Braunschweig
„Vielleicht wird nur derjenige, der während der letzten zwei Lebensstationen Hartmanns – Berlin und Göttingen , 1931-1950 – überwiegend in seiner Nähe und in dem sehr kleinen Kreis um ihn war, das Folgende nicht mißverstehen: der Mensch Hartmann mit seinem Widerspruch und seiner Art, sich nur einem halben Dutzend ihm Vertrauter eigentlich zu geben, sei interessanter als die voluminösen Bände, die ihn heute für viele verdecken.“
Mit diesem Satz leitete Hermann Wein seine Anmerkungen zu Nicolai Hartmann ein.
Über das Zustandekommen des vorliegenden Referats gibt die Anmerkung am Ende des Textes Auskunft.
Es geht im Folgenden hauptsächlich um das aus Nicolai Hartmanns <Disputierzirkel> in Köln an Donnerstagabenden der Jahre 1929/30 hervorgegangene, 1932 abgeschlossene und 1933 veröffentliche „Problem des geistigen Seins“ 1 mit dem Untertitel: „Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften“ , für Wein das Fragwürdigste, aber damit auch Interessanteste und für den heutigen Leser Provozierendste von Hartmann. Dessen „kritische Ontologie“ ist ja zutiefst von den Naturwissenschaften beeinflußte Wirklichkeitsphilosophie, die gleichwohl das Geistige mit einbezieht. Das Problem des geistigen Seins will den zwischen Metaphysik und Antimetaphysik zweideutigen, aus theologischer und metaphysischer Tradition herkommenden Begriff <Geist> neu verstehen, nämlich als ein ebenso Wirkliches wie das erfahrbare und wissenschaftlich erforschbare Wirkliche im Kosmos.
Hartmanns Sich-Freiringen aus der Marburger neukantisch-spätidealistischen Schule ist bekannt genug. Mit seiner Real-Ontologie trennte er sich früh von der Logik des Denkens seiner Marburger Lehrer Cohen und Natorp. Er konnte mit feiner Ironie erzählen, wie die von ihm zeitlebens Verehrten ihn schlicht für verrückt hielten, als er begann, statt nach dem Gegenstände konstituierenden Denken nach der Erkenntnisrelation als nach einer Seins-relation zwischen dem zur Seinswelt gehörenden Erkenntnissubjekt und der zu erkennenden Seinswelt zu fragen .
Das Problem des geistigen Seins weist auf das Wichtigere: Hartmanns Sich-Freiringen von Hegels Systemdenken, von dessen fabulosem Spiritualismus und Geist-Monismus .
Lebendig geblieben ist Hartmanns Unterscheidung zwischen Problemdenken und System-denken.
Er war als Lehrer, Freund und Berater bis in die letzte Faser Problemdenker. Seine vier Ontologiebände scheinen dagegen die Probleme auszuwalzen. Wie konnte das Streben nach dem Systemhaften und das Bewußtsein über das Problemhafte der Philosophie in einem Menschen so ausgeprägt sein?
Der evangelische Theologe Joseph Klein, der 1950 als Universitätsrektor die Grabrede auf den mit einer christlichen Beerdigung nicht Einverstandenen hielt, nannte Hartmann fälschlich den <letzten Summisten>, der nochmals oder letztmals neben Hegel oder der alten Ontologie alle Hauptgebiete der Philosophie abgehandelt habe, fest gebunden an die Neue Ontologie. Das war ungeheuerlich falsch. Nicolai Hartmann machte in Göttingen einmal eine sonderbare Bemerkung: „Ich glaube, ich habe zuviel Ontologie gemacht, was wir jetzt machen müßten, wäre eine Philosophische Anthropologie“.
Man warf Hartmann vor, er habe zu sehr an der Tradition der alten Philosophie gehangen. Soll das heißen, der vor-existenzphilosophischen, der vor-wissenschaftlichen, der vor-analytischen? Denen allen warf er <Problemkehraus> vor, ein Zurückfallen hinter den ersten Satz der Vorrede A von Kants Kritik der reinen Vernunft von den nicht abweisbaren, aber auch nicht zu beantwortenden Fragen, die alles Vermögen der menschlichen Vernunft über-steigen.
Der Grund, warum Hartmann nicht eine <summa>, nicht <humanae cognitionis fundamenta omnia> (Christian Wolff ) geben wollte: er versagte sich den Urfragen, deren Antworten den Erkenntnisanspruch ins Unreale übersteigern. Die Fragen nach dem absoluten Ursprung und Prinzip, nach dem letzten Telos und universalen Sinn hatten keinen Platz in Hartmanns Philosophie-als-Kategorialanalyse. Er philosophierte bewußt und ausdrücklich nach Kant. Er blieb im <Hiesigen> 2; für den, für den es kein Jenseits gibt, gibt es auch kein Diesseits. Deshalb: Auch seine Wirklichkeitsschicht des objektiven Geistes ist an Konkretes, Wahr-nehmbares, nüchtern Erfahrungsmäßiges gebunden. Gleichwohl sind die spiritualistischen und theologischen Obertöne der Vokabel Geist störend genug. Aber für Materialismus ist ja ebenso störend die Vokabel Materie, nachdem sich für die Physiker das alte Ding: hyle, materia, Stoff, heute in mathematische Struktur umgesetzt hat.
Und was Hartmanns Atheismus betrifft, ein Wort, das er nicht gebrauchte, so war er sich des Unsinns bewußt, der darin steckt, gegen etwas zu sein, von dem man überzeugt ist, daß es nicht ist. So einfach, wie nach Max Schelers Bezeichnung Hartmanns als heroischer Atheist steht es nicht. Der Jesuitenprofessor und Heideggerschüler Johannes B. Lotz fragte Nicolai Hartmann: „Ihr Schichtenbau steht doch nach oben offen. Wieso kann dann über dem, was Sie objektiven Geist nennen, nicht der absolute Geist = Gott stehen?“ Die Antwort hatte Hartmann lange zuvor in einem Brief an seinen im Schuldienst tätigen Freund Josef Münzhuber gegeben, der wünschte, das folgende bekannt zu geben: „Daß ich nie eine religiöse Erfahrung hatte, ist die größte Enttäuschung meines Lebens“.
Bescheidenheit war eine Grundachse des Menschentums und des Philosophentums Nicolai Hartmanns. Das scheint freilich nur dialektisch zu passen zu dem Prätentiösen, nach Kant über den Aufbau der realen Welt zu schreiben oder eine Naturphilosophie heute, obwohl er weit mehr als dilettantische Kenntnisse in Biologie und vor allem Astronomie hatte und sich u.a. mit der ihm eigenen Zähigkeit in späteren Jahren solche der Mengenlehre erarbeitete; der aber doch zu Fragen der physikalischen Grundlagentheorie seinen Assistenten 3 zu Werner Heisenberg sandte, z.B. mit der Frage, die seine tiefe Gebundenheit an Anschaulichkeit erhellt, ob das Elektron eher als Gebilde oder als Prozeß zu verstehen sei... Als Heisenberg keine auf diese Anschauungskategorien eingehende Antwort gab, schüttelte Hartmann den Kopf .
Provokant schon der erste hartmannsche Ontologieband: <Zur Grundlegung der Ontologie>, obwohl doch die Seinsphilosophie in der abendländischen Geschichte die älteste und konstant gebliebene Grundlegung hat. Was heißt dann neue Grundlegung, neue Ontologie?
Hartmanns kritische, d.h. durch Kant hindurchgegangene Seinslehre geht nicht mehr aus von den Uraltfundamenten: dem on hé on, von den Transzendentalien unum,verum,bonum, die auf das ens realissimum Gott zielen, nicht mehr vom ens sive aliquid als dem non nihil, das letztere definiert nach dem principium contradictionis als principium absolute primum. 4 Hartmanns Ontologie ist Wirklichkeitslehre, die wie bei Kant von menschlicher Erfahrung ausgeht und im theoretischen Bereich innerhalb von deren Grenzen bleibt, entsprechend dem eingegrenzten Standort des Menschen und der menschlichen geistigen Vermögen im Wirk-lichkeits-Kosmos. Dagegen erscheint die alte Ontologie wie vom Standort Gottes her gesehen, auf den sich menschliche endliche Erkenntnis nur illusionär versetzen kann: aus metaphysischem Bedürfnis, in einem die begrenzte menschliche Erfahrung überfliegenden Vernünfteln. Die proté philosophia, die scientia generalis, verstand sich als Wissenschaft, epistéme tis. In gewissem Sinn übernahm Hartmann von Kant den Kampf gegen die Pseudo-Wissenschaft, gegen die theologiekonforme Metaphysik. Er nahm zur Grundlegung die neuzeitlichen Naturwissenschaften, denen er den Obertitel <positive Wissenschaften> gab und blieb strikt im Feld möglicher Erfahrung. Wie ja der „sichere Weg“ und „gewisse Pfad“ der Physik dem Philosophieren Kants Vorbild war.
Hartmann sah den Menschen nicht vom überhimmlischen Ort her, sondern von den Sternen her, die er in seinem Teleskop am realen Himmel sah, an seinem keine Pathetisierung recht-fertigenden unbedeutenden Ort im Kosmos .
War Hartmann mehr Wissenschaftler als Philosoph? Im vertraulichsten Gespräch sagte er kurz vor seinem Tod: „Früher ging es mir um alles oder nichts...Ich wollte ein großer Philosoph werden...“ Eine wissenschaftliche Metaphysik nach Art der neuzeitlichen Mathematiker-Philosophen Descartes, Leibniz und auch noch Kant lag ihm fern. Seine neue Ontologie war für ihn nicht Metaphysik, zumal bei seinem eigentümlichen Sprachgebrauch, wonach Metaphysik auf das dem Menschen letztlich nicht Erkennbare (Transintelligible) gerichtet war. Die Erforschung der Schichtungs- und Kategorienverhältnisse war wissen-schaftlich, nicht metaphysisch. Dazu gehörte Erfahrungs-Erkenntnis, nicht bloß reines Denken von Gegenständen.
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Philosophia ultima – Weder Metaphysik noch Antimetaphysik
Hartmanns Bescheidenheit trotz seines Gelehrtentums betraf nicht nur den Kern des Menschen Hartmann. Sie lag inhaltlich seiner Seinsphilosophie zugrunde – im Unterschied zu Heideggers Fundamentalontologie, die er aber nicht genügend kannte. Dafür war ihm die alte Ontologie in einem Maße präsent, daß er ein Zitat aus Aristoteles Metaphysik und aus Wolffs Deduktionen über das ens, das possibele et impossibele, die ratio sufficiens qua aliquid potius sit quam non sit..., ohne zu einem Buch zu greifen, einem Fragenden aus dem Gedächtnis lokalisieren konnte.
Hartmanns Ontologie als neue definiert sich aus der Konfrontation mit der vorkantischen apriorischen Wissenschaft vom nexus rerum und mundus verus. Später soll gezeigt werden, daß ihre Neuheit tiefer definiert wird durch ihren Ausgang von der natürlichen Einstellung des Menschen zur Welt und damit durch eine bei Hartmann latente Anthropologie. Von daher vertieft sich überraschend die Emphase auf dem Aufbau der realen Welt, auf ausschließlich deren Kategorien, und die darin implizierte Polemik gegen Hegel, die am Geist-Thema akut wird.
Hartmanns ontologische Auskünfte über die anorganische, die organische, die psychische und die geistige Schicht und deren Fundierungs- Überformungs- und Überbauungsverhältnisse waren ihm Zusammenschau der Funde der auf diese Schichten je bezogenen Realwissen-schaften. Den Bezug seiner Philosophie auf diese brachte er auf die Formel philosophia ultima. Die Zeit der den empirischen Wissenschaften als philosophia prima sive ontologia über- und vorgeordneten metaphysischen Wissenschaften schien ihm ein für allemal vorbei zu sein.
Weitergedacht führt dies auf den Wegweiser: Weder Metaphysik von oben noch Metaphysik von unten.
Metaphysik von oben im corpus metaphysicum von Plato bis Hegel ging von der höchsten Schicht, der geist-oder logoshaften aus. Für Hartmanns Ontologie aber ist die höhere Schicht zwar die reichere, aber die schwächere gegenüber den niederen Schichten. Diese können ohne die höheren sein. Hiermit rückt bereits die Abgrenzung gegen ein im religiösen oder idealist-ischen Sinn teleologisches Konzept im Weltaufbau zum Hauptthema dieses antiteleologischen und antianthropomorphen Philosophierens auf.
Ebenso wenig ist aber das Gesamtreich des Wirklichen von unten her zu erklären. Man will dann durch Reduktion auf ein nichts als das Materielle allein anerkennen.
Das Systemdenken der metaphysischen und der antimetaphysischen Ismen wird der Gesamt-erfahrung nicht gerecht .
Von daher hat Hartmanns Philosophie in ihrer Konsequenz drei Thesen zu verteidigen, die ihr in allen Lagern keine Freude machen:
Das Geisthafte ist nur eine Schicht in dem durch das Schichtungsverhältnis verklammerten Wirklichkeitskosmos; dieser ist ein nach oben und nach unten offen bleibendes Strukturkontinuum, von dem die menschliche Gesamt-Erfahrung Wissen-schaft ermöglicht.
Nur die niederen Schichten für die Realität zu halten, verträgt sich nicht mit unseren Erfahrungen am Menschen, ohne daß diese eine Erfahrungsgrundlage abgäben für die Zuordnung zu einem Absoluten außerhalb des Schichtenbaus.
Vielmehr kann auch der Mensch als Ausübender geistiger Akte nicht die Kategorienstruktur durchbrechen- nach seinem Wunsch. Alles Menschliche bleibt relativ auf die Schichtung und dadurch im Schichtenbau.
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Die hartmannsche Suche nach der Mesotês durchzieht sein ganzes Lebenswerk. In anderen als Hartmanns Formeln gesagt: Die heutige mächtige materialistische und positivistische Anti-metaphysik ist ihm nicht mehr als eine Umpolung der durch Jahrtausende im Kartell mit Platonismus und Christentum übermächtigen Verkennung des Schichtenbaus der Wirklichkeit qua Fundierung und Bewertung. Aber bis wohin reicht das Wirkliche? Bis zum ens realissimum? Aber das ist ja gedanklich konstruiert- durch Vernünfteln (Kant).
Hartmanns Bezug auf konkrete Wirklichkeit, nicht als theoretischer, sondern über Anschau-ung und Sinnlichkeit war überwältigend stark und ein Zentrales in Hartmanns menschlichem Wesen. Seine Bücher schrieb er auf Papier, das er vom Großhändler bezog. Er schnitt die qm-Bogen mit dem Messer auf einer Holzplatte zu Schreibpapier zurecht.
Experimentell hatte er einst in Biologie gearbeitet. Sein nicht amateurhaftes Teleskop, das er 1946 auf dem Rücken von Neu-Babelsberg über die grüne Grenze nach Göttingen mitbrachte, ließ ihn in der astrischen Wirklichkeit so zu Hause sein, daß er ohne Kalender und Merkbuch das Aufgehen einer bestimmten Sternengruppe vorher wußte und das Teleskop ohne langes Suchen darauf einstellte .
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Zusammenschau I mit der amerikanischen Cultural Anthropology
Für das <Diesseits von Idealismus und Realismus>, Titel für Hartmanns Programm zu einem Kantbuch, das er selbst nicht geschrieben hat, hängt alles daran, ob es geistige Wirklichkeit gibt. Sie müßte für Hartmann ein Erfahrungbereich sein, à part aller spiritualistischen Meta-physik von oben.
Zu Hartmanns „Problem des geistigen Seins“ schrieb Helmuth Plessner 1933:
„Hartmann bezeichnet Hegel als den Entdecker des objektiven Geistes und vergleicht ihn mit Kolumbus, der auch nicht gewußt hat, was er entdeckte. Es ist dann wohl nicht falsch, wenn man Hartmanns Leistung mit einer großen kartographischen Aufnahme dieser Region vergleicht“.5
Der Bereich des objektiven Geistes, wie Hartmann ihn in fataler Treue zu Hegel und in folgenschwerer Zweideutigkeit nennt, ist von anderer Wirklichkeit als der subjektive Geist der je einzelnen Menschen. Auch jener ist aber erfahrungsmäßig zugänglich. Die <kulturelle> Existenzweise der Menschen, je anders geprägt in der heute bekannten Vielzahl menschlicher Gesellschaften, wird von der empirischen Wissenschaft „Kulturanthropologie“ erforscht. Die Begriffe „Geist“ und „Kultur geben sich zwar in puncto Überdeterminiertheit und Überbau-verdacht nichts nach. Aber die Akkulturation des menschlichen Verhaltens (im weitesten Sinn) nach je verschiedenen und geschichtlich wechselnden Mustern (patterns) sticht ab vom
Geprägtsein durch Naturgesetze und ist doch etwas Empirisches.
Als methodische Leitlinie ergibt sich die Zusammenschau mit der hauptsächlich in den USA entwickelten Cultural Anthropology, ursprünglich von der Völkerpsychologie von Max Wundt aus Leipzig herkommend und vertreten von Franz Boas, Ruth Benedict, Bronislaw Malinowski (einstiger Wundt-Schüler), Ralph Linton, Alfred L. Kroeber, Melville Herskovits, Clyde Kluckhohn, Mrs. Thompson und Delaguna... Diese ist keine Geist-Philosophie. Sie alle haben von Nicolai Hartmann nichts gewußt und erst nach dessen Tod (durch Wein; D.M.) von ihm erfahren.
Das war Hartmanns Traum gewesen: Daß seine Wirklichkeits-Philosophie Sukkurs bekom-me von neuer Wirklichkeits-Wissenschaft. Dieser Traum hat sich wenig erfüllt, Hartmann ist 1950 verstorben. So soll jetzt und muß eine Synopse versucht werden. Sie wird beiden Bestrebungen ergänzend dienen können.
Die Departments für Cultural Anthropology sind in den USA nicht verbunden mit den Philosophy Departements. Doch waren schon in den fünfziger Jahren die vom field-work in außereuropäischen Gesellschaften herkommenden Forscher des Cultural und Anthropological auf Themenstellungen gekommen, die in Europa zum alten Fundus der Philosophie gehören: Zum Kultur-Relativismus, zum Universum der ungeahnt diskrepanten Kultur-Muster (cultural patterns) und zu den wenigen Universalproblemen der Mitglieder aller Gesellschaften rings um den Globus. Im Zentrum stehen für die Kulturanthropologie wie für Hartmanns Theorie des objektiven Geistes die überragenden Phänomene: Sprache, Tradition, kollektive Gewohn-heiten, einende Glaubenssysteme und Wertorientierungen, daneben die praktischen, rituellen, bildnerischen und mytho-poetischen; neu hinzu gekommen: die verschiedenartigen gesell-schaftlichen Vorstellungen und Reglungen in puncto Tod, Geschlechter- und Generationen-verhältnis, sowie die Erforschung der primären Symbol- und Zeichensysteme, die jene Vorstellungs- und Reglungssysteme konditionieren. Sie sind bei den <primitiv> Genannten besonders kompliziert .
Auf die allgemeinen anthropologischen Herausforderungen antworten die verschiedenen Gesellschaften in bestimmten Entwicklungsphasen mit je spezifischen Verhaltens-Mustern. Solche cultural patterns stehen in der heutigen Kulturanthropologie anstelle von Hartmanns mißverständlichen Begriffen <Inhaltsgebiete> und <Gehalte> des objektiven Geistes.
Die Rede von Kulturmustern ist mehr als positivistische Reduktion von Hartmanns zentraler Formel: der objektive Geist als Formgeber der Gemeinschaft (P 205 f). Struktural geht es um das Gleiche: um Antworten auf die allgemein anthropologischen Herausforderungen (prob-lems) aufgrund der einzigartigen Modellierbarkeit (malleability) menschlichen Gruppen-verhaltens, (Hartmanns <Leben der Gemeinschaft> klingt zu altmodisch!) und der notwendigen Einschränkung menschlicher Beliebigkeit durch gesellschaftlich anerkannte Normen, die sich nur in geschichtlichem Rhythmus wandeln. Diese Struktur der soziokulturellen Wirklichkeit ist das Konkrete zu dem abstrakten „Formen“ des Gemeingeists durch den objektiven Geist bei Hartmann. Falsch und voreingenommen sind nur hartmannsche Sätze wie die folgenden:
„Ebenso ist es ...gleichgültig, an welche Entwicklungsstadien der Völker man sich hält ...die höheren Stadien sind, obgleich sie die ursprünglichen nicht sind, um nichts weniger lehrreich als die primitiven“ (P213).
Nein! Von dem heutigen Erfahrungswissen über Riten, Zeremonien, Tabus...in menschlichen Frühgesellschaften wäre Hartmann über das Funktionieren von „Leben, Macht und Realität des objektiven Geistes“ sachlicher und direkter belehrt worden als durch die intellektuellen „Inhaltsbereiche“. Hartmann stellte das Problem des objektiven Geistes noch viel zu eng. Seine Sprache ist noch zu hoch geistig, sie hat z.B. die tragenden, niederen Formen der Gruppenkommunikation nicht vor Augen (s.u.). Geist wird durch derlei nicht degradiert, profanisiert, sondern konkretisiert zu einem faktisch anthropologisch Realen.
Was im Problem des geistigen Seins als concreta für die formende Macht aufgeführt ist (vgl. P 206 f, 212 f ; z.B. P 210: „Der Staat (als) innere Gestalt, die der Geist dem überkommenen Kollektivum gibt“), konstruiert in abstrahierender Sprache Überbauten über der anthropolo-gischen Wirklichkeit und gibt deshalb weniger genaue Wirklichkeitslehre. Ist <Geist> nicht durch die Machtfülle spiritualistisch-theologischer und hegelscher Tradition ein zu hoch gegriffener Name, der das eigentümliche faktische Beziehungs- und Wechselwirkungssystem zwischen bewußten Mitgliedern von Gesellschaften verdeckt, zu deren Einheiten Familie, Gruppe, Sippe und Clan, Stamm und Stammesverbund weit unterhalb von Völkern und Staaten gehören ?
Hartmanns Lebenswerk ist gerichtet auf die Erkenntnis des gleich Gewichtigseins der Wirklichkeits-Schichten, an Zugehörigkeit zu der einen Seinswelt <von unten bis oben>. Das objektiv Geistige, von dem das Problem des geistigen Seins handelt, ist nicht von der Seinsart des Rein-Geistigen. So hat Hartmann einer Erfahrungswissenschaft über die überbiologische und überindividuelle Wirklichkeit immerhin philosophisch einen Platz gesichert und die Richtung gewiesen zu einem <Geist>, der nicht in einer höheren Realität angesiedelt ist, d.h. nicht einem metaphysischen Idealismus à la Hegel angehört. Dies war in der Tat neue Ontologie.
So hatte Descartes 300 Jahre früher in seinen Regulae ad directionem ingenii die Welt der mathematisch experimentellen Naturwissenschaft gesichert und sie aus der spekulativen
prima philosophia ausgegrenzt.
Den Weg von der Empirie zu philosophisch-anthropologischen Konsequenzen, ganz. i.S. von Hartmanns philosophia ultima ging Claude Lévi-Strauss (Schüler der Émile Durkheimschen Soziologie).
Ein Vorbahner wie Ernst Cassirer gehörte noch, wenn auch auf einem sehr eigenen, schon dem damaligen Erfahrungswissenschaftlich-Kulturwissenschaftlichen zugewandten Weg zur neukantischen Schule. Beim frühen Cassirer war noch die vor-hartmannsche Kategorie <Geist> da, es war das neukantische <Denken> noch zu fern vom Erfahrungs-Zugang zu den Phänomenen der kulturellen bzw. objektiv geistigen Wirklichkeit.
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Zusammenschau II: Realkategorien der kulturellen Existenzweise des Menschen
Weder idealistischer Höhenflug noch Reduktion der Phänomene aus materialistischer Anti-metaphysik !
Clyde Kluckhohn gab im Kolleg in Harvard eine auf den ersten Blick positivistische Defini-tion: „Culture is the sum total of human behavior in a given society“. Zu deutschen Kultur-begriffen nach der Art von Herder-Humboldt-Dilthey, alle um Veredlung und Vergeistigung zentriert, scheint kein Bezug zu bestehen. Auch Hartmanns neue Geisttheorie hat und sucht keinen Bezug zu der idealistischen deutschen Kulturverklärung. Sie kommt auch nicht auf die traditionellen Themen des Dienstes an ewigen Ideen, absoluten Werten, am Allerhöchsten zu sprechen.
Es geht in beiden Theorien um Realkategorien der faktischen kulturellen Existenzweise der Menschen in geschichtlich realen menschlichen Gesellschaften. Die kulturellen Realphäno-mene werden nüchtern im Hiesigen, d.h. hier: im Rahmen der vorgeistigen Realitäten der Existenzweise des Weltenbewohners Mensch gesehen. Wissenschaftlich gesehen und nach heutigen Erfahrungen ist menschliches Verhalten in allen anthropologisch erforschten Gesellschaften, auch und gerade in den sog. primitiven, nicht nach nur biologischen, instinkt-programmierten und auch nicht nach nur individualpsychologischen Mustern strukturiert, sondern nach cultural patterns, nach Kategorien des objektiven Geistes .
Beide Theorien haben unabhängig voneinander Schichtungsmodelle aufgestellt:
Hartmanns Theorie des objektiven Geistes : geistig psychisch organisch anorganisch
| Die Cultural Anthropology culture society mind body |
In Hartmanns Aufbau der realen Welt kommt die soziale Realität zu kurz, ist ein Vakuum dort, wo Soziologie und Anthropologie stehen müßten. Hier wird eine Wurzel für das Vergessenwerden Hartmanns in der heutigen Zeit stecken . Aber für ihn war Soziologie keine positive Wissenschaft . Die spezifischen Sozial-Systeme und -Vermittlungen konkretisieren das spezifisch menschliche Sein. Die Phänomene der Gesellschaftlichkeit im Tierreich stehen dagegen unter anderen Gesetzen. Andererseits: Robinson Crusoe ist die Abstraktion vom Menschen.
Merkwürdig gleich ist das Manko bei den zwei antipodischen Seinslehren von großem Format: derjenigen Hartmanns und derjenigen Heideggers. Dieser gibt dem <Man> die negative Bedeutung, stellt das <Jemeinige> ins Zentrum, definiert als <Dasein> dasjenige, dem es in seinem Sein um sein Sein geht: die fensterlose Daseinsmonade. Hartmann blickte in den naturwissenschaftlichen, astro-nomischen Kosmos. Vielleicht kam ihm daneben der menschliche Kosmos klein vor. Aber letzte kleine Arbeiten geben eine Selbstkorrektur, die kaum so recht bekannt geworden sein dürfte. Zwar nicht die soziale Dimension, aber die Person-zu-Person-Bezüge rücken in den Mittelpunkt des geistigen Seins, (s.u.)
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Die Schichtungsmodelle von Kroeber und Nicolai Hartmann im Vergleich
Der Schichtenbau A.L.Kroebers in seinem Standardwerk Anthropology (New York, 2. Aufl. 1948) bezieht sich nur auf den Menschen, body und mind auf dessen Individualität, society und culture auf das Überindividuelle. Das Leben von Körper und Bewußtsein ist Kondition für soziales und kulturelles Leben. Social und cultural sind untrennbar. Aber society ist auch für Kroeber vornehmlich das Tragende, culture das Getragene. Wichtiger ist der Begriff des zirkulären Bedingungsverhältnisses, um nicht in der Henne-und-Ei-Frage stecken zu bleiben.
Culture umspannt, was als geschichtliche Dimension dazu gehört: cultural change, -process,-growth, -diffusion, wichtig auch die Berührung verschiedener Kulturen. Kroebers Definition von culture ist ganz nach dem Gedanken der Schichtung geprägt: als ein Reales, das super-organic und superindividual ist .
Hartmann ging es immer und überall um die <Rettung der Phänomene> (Aristoteles). Welche Phänomene sprechen für die Realität einer höheren Wirklichkeitsschicht <Geist>? Die jeweils niedere Schicht trägt die höhere. Das Intaktsein dieser hat zur Voraussetzung das Intaktsein jener. Von einem Welt-Dualismus als Systemprinzip mit einem Bewertungsakzent ist in beiden Theorien nicht die Rede.
Die Phänomene des social und cultural life bilden eine Gesamtstruktur, die die menschliche Wirklichkeit auszeichnet. Hartmann scheidet zu wenig, um zur Struktur zu kommen, wenn er <Geist> zum gemeinsamen Nenner erhebt. Die Kategorien des mind (bekanntlich schwer übersetzbar: Bewußtsein oder Geist?) spaltet Hartmann in solche des personalen Geistes und der Psyche. Das ähnelt noch dem metaphysisch Prätentiösen eines isolierbaren rein Geistigen. Im Problem des geistigen Seins trennt er Geist in personalen, objektiven und objektivierten. Hier geistern immer noch Chimären der Hegelschen Geist-Philosophie. Die Phänomene an der Basis des objektiven Geist-, des Kultur-Reichs geben Hartmanns nicht glücklichen Gliederungen nicht Recht. Sie schaden dem Problemdenken und der Phänomen-Beachtung mit einem gewissen Bürokratismus des Systemdenkens, das ortlos zwischen Hegel und der Empirie schwebt.
Die Einmaligkeit des Künstlers liegt in dessen personalem Geist, seine in Kunst und Geistesgeschichte eingehende Form- und Stilfindung gehört dem objektiven Geist und dessen Wirklichkeit an. Das gestaltete Kunstwerk ist objektivierter Geist . Genauso ist es mit den Erkenntnissen des Wissenschaftlers. Das Objektivierte mag die Jahrtausende überdauern.
Die verschiedenen Deutungen der geistigen Werke gehören wieder zum lebendigen Geist. Das Leben der Wissenschaften ist für Hartmann das reinste Paradigma für objektiven Geist.
Schematisiert sieht die halbe Kongruenz der zwei Schichtungstheorien so aus:
culture society mind body |
objektiver Geist personaler Geist Psyche |
objektivierter Geist objektiver Geist personaler Geist |
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Hartmann konnte mit radikaler Bewertung sagen: noch nicht das subjektiv Geistige, sondern erst, was zum objektiven Geist gehört, sei eigentlicher Geist. Hätte Hartmann die Haupt-phänomene des objektiv-geistigen Lebens nicht zuförderst als gesellschaftliche Phänomene würdigen und kategorisieren müssen: Sprachen, Institutionen, Wissenschaften, Künste, Traditionen und Riten, an der Basis aber: die kollektiven Gewohnheiten überhaupt, bis hinab zu den prosaischsten der Gestaltung und der Zeichenverständigung? 6
Hartmann beleuchtete im Disputationszirkel oft glänzend das Sicheinschleifen von kollek-tiven Handlungsweisen zu ritualisierten Gebräuchen einer Menschengemeinschaft. Aber das macht nicht aufmerksam auf das Prägende der menschlichen Gesellschaftlichkeit durch sozio-logische Strukturen wie das Spiel gesellschaftlicher Rollen in einem Rollensystem als Muster der Gegenseitigkeit im Verhalten zueinander. Objektiver Geist als Formgeber des Gemeingeistes (in Hartmanns nicht glücklicher Ausdrucksweise) müßte die gesellschaftliche Geformtheit eines Verhaltens von der Art des menschlichen, nicht instinktgeformten, sondern bewußt gegenseitigen hervorheben. Alles Nicht-Natürliche, Geistige wird verwirklicht mit Hilfe von Sprachverständigung als Voraussetzung allen geistigen Austausches. Auch ontogenetisch, im „primitiven“ Bewußtsein des Kleinkindes, müssen ja zuerst Gegen-seitigkeitsverhältnisse - mit der Mutter, der Pflegeperson- da sein als Voraussetzung geistiger Entwicklung.
So herzustellende Gemeinsamkeit ist relativ auf übermittelbare geistige Gehalte und relativ auf das Entwicklungsstadium der Kommunikationsbereitschaft.
Ist solche Voraussetzung eine niedere Schicht, vom „Hochgeistigen“ her gesehen? Eine solche Beurteilung wäre beeinflußt von heute überholter Wertanmaßung aus alter europä-ischer Überlieferung, ein spiritualistisches Überspringen der onto-soziologischen Basis. Hartmanns Untersuchungen beziehen sich nur auf die Hochkultur. Die empirische Kultur-anthropologie von heute erarbeitet ihre Erkenntnisse weitgehend an primitiv erscheinenden außereuropäischen Cultures. Der Raum der entwickelten europäischen Kultur, über den man jahrtausendelang nicht hinaus sah, ist in Wahrheit eine Insel im Universum der soziokultu-rellen Formungen in der heute erforschten Gesamtmenschheit. Übertragen ins Astronomische hätte Hartmann das notwendige Hinaus über die geo= eurozentrische Sicht sofort anerkannt .
Der zweideutige deutsche Geistbegriff
Columbus entdeckte den neuen Kontinent mit veralteten, alsbald durch seine Entdeckung überholten Seekarten. Mit beiden hier verglichenen Theorien steht es nicht anders: die Cultural Anthropology ist eine Wissenschaft in the making. Hartmann konnte das Wirk-lichkeitsgebiet des Objektiv-Geistigen nicht im vorhinein richtig absehen. Beide Zugänge müssen sich mit erst richtigzustellenden Begriffen behelfen.
Der einst festgeprägte deutsche Kulturbegriff ist schon umgeformt im heutigen amerika-nischen Gebrauch von culture, für die es eine Vielzahl von Definitionen gibt. Der deutsche Geist-Begriff war wohl immer und wird wohl immer zweideutig sein, als Eindeutschung des theologischen Begriffs spiritus (sanctus) mit seiner christlichen, aber weit hinter die christliche Glaubensform zurückreichenden Wurzel. Nur so kann man Hegels Behauptung verstehen: Er habe als erster <Geist> als philosophische Zentralkategorie erfaßt und verwen-det. Hegelschüler und Hegelrenegat Marx stellte einen um erstmalige Erkenntnisse über die gesellschaftliche Existenz und Geschichte bereicherten Materialismus entgegen, eine Anti-Geist-Lehre, die ebenso eurozentrisch aufgezogen ist wie Hartmanns Geist-Lehre. Hegel kam auf andere Kulturwelten zu sprechen. Aber was er über die Chinesen oder die Afrikaner sagt, ist hanebüchener Unsinn .
Vom Geist einer Stadt, einer Epoche, einer Bewegung und Gruppe, vom Geist der Gesetze (Montesquieu) war schon vor Hegel die Rede. Philosophisch-prinzipiell Geist als Realkate-gorie zu nehmen und aus der metaphysischen Hypostasierung zu lösen, war eine revolutionäre Tat Hartmanns.
Objektiver Geist im hartmannschen, nicht im hegelschen, diltheyschen oder freyerschen Sinn ist auf dem Wege zu einem neuen Geistbegriff, der bezogen ist auf Gesellschaftlichkeit von singulär menschlicher Art, der Wechselbezüglichkeit individueller Bewußtseinswelten, die nicht biologisch-instinktmäßig oder ich-psychologisch, sondern eben geistig strukturiert sind, culturally patterned. Kronzeuge dafür ist die Sprache.
Die Überwirklichkeit eines Geist-Gottes kommt in Hartmanns Wirklichkeit nicht vor. Vom soziokulturell Empirischen hatte Hartmann aber noch keine zureichende Kenntnis. Hartmann verneint auch mit Schärfe, daß es so etwas wie eine Schicht des Menschlichen gebe. Vielmehr treffen sich die Schichten im menschlichen Weltbewohner (Kant). Das betrifft den Allgemeinbegriff vom Menschen, von welchem Hartmann spürte, daß er zu leer ist. Er suchte seine Erfüllung mit Anschauung aus dem objektiv geistigen kulturellen Leben in seiner reichen Konkretheit. Er stieß nur nicht genug in die tiefenpsychologische, ethnologische, soziologische Phänomenbasis von objektivem Geist vor.
Dem Ontologen- Kosmologen Hartmann war der Mensch nicht zentral. An vielerlei Philoso-phie , nicht nur an der ihm zeitgenössischen Existenzphilosophie, kritisierte er die Überschät-zung des Menschen und das Theoretisieren aus Bewandtnissen wie Angst, Sorge, Tod...
Die Frage, von woher der Aufbau des Kosmos und das Reich der Kategorien, auch derjenigen des geistigen Seins, geschaut werde, erschütterte Hartmann nicht. Wahrscheinlich hätte er es für eine Binsenweisheit gehalten, daß die Suche vom Menschen - mitten im Kosmos- aus-gehe. Hartmann ließ grundsätzlich seine Seinsphilosophie vor der Frage nach der Genesis Halt machen. Die Umstellung von der intentio recta in die intentio obliqua lehnte er als Überreflektiertheit ab. Er stand im Kampf, nicht nur gegen den neukantischen Idealismus, sondern mehr noch gegen das, was objektiver Idealismus bei Hegel heißt .
Hartmann konnte sich im Gespräch affektvoll böse über die These des einstigen Kölner Kollegen Max Scheler äußern: der Geist sei ohnmächtig, nur der Drang ermächtige ihn, der für Scheler, vielfach in Übereinstimmung mit Freuds Libido-Theorie, aus dem Naturhaften des Menschen stammte. Hartmann sprach vorsichtig vom bloßen „Einschlag des Planens“ im Geschichtsgeschehen.
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Die Geistschicht als Wirklichkeit wie die anderen Schichten
Rein Geistiges, Sublimes, wie es ein amerikanischer Philosoph als das Gas karikierte, mit dem die Deutschen ihre Ballons füllen, um über der Wirklichkeit zu schweben, war nicht Hartmanns Sache. Vor dieser „gefährlichen Vokabel Geist“ schützt die Schichtenlehre. Das pros hémas, die Perspektive des rein philosophischen Subjekts wollte er nicht, wohl wissend, daß Subjekt und Objekt untrennbar sind, ja daß die Wahrheit über ihr Ineinanderver-flochtensein in den mehr als erkenntnismäßigen „emotional transzendenten Weltbezügen“ greifbar wird. Der gelernte Altphilologe Hartmann beschritt seinen philosophischen Weg von den antiken Denkern her, die auf die Phänomene und Aporien abstellten. Sein Platonbuch war zwar noch neukantisch getönt, ein fertiggeschriebenes Aristotelesbuch verbrannte er; wie um die Brücken zu verbrennen? Husserls Appell aus dessen Göttinger Zeit: „Zu den Sachen selbst!“ zitierte er seinen Studenten als Imperativ.
Zur Frage nach dem Ort einer Geist-Philosophie: Sie ist nicht erbauliche Krönung der Schöpfung und des Geschöpfes Mensch, sie ist nicht Alibi, um das nichtspirituelle Wirkliche als niederes Ungeistiges zu denunzieren, die Geist-Schicht ist nicht aus versteckt-religiösem Sinnbedürfnis da. Sie gehört dazu, weil sie Wirklichkeit ist wie die anderen Schichten. Die Schichtenlehre macht die Ismen nicht mit. Sie projiziert nicht menschliches Höher- oder Niedrigerbewerten in den Kosmos. Das Novum seiner Ontologie richtet sich auf Mesotês und Wirklichkeits-Anerkenntnis. Hartmann wollte in seiner neuen Ontologie die natürliche Einstellung des in der Welt Lebenden zu philosophischer Bewußtheit bringen samt dem Bewußtsein über die Unvollständigkeit der Übersicht. Die Wirklichkeiten der Welt wie von außerhalb der Welt auf einen Nenner zu bringen und den Ursprung zu finden wäre der selbstkritischen Bescheidung des Gelehrten Hartmann zuwider gelaufen.
Er hat alle klassischen philosophischen Fächer gelehrt, Philosophische Anthropologie aber nicht. Die sollten Jüngere bearbeiten. Aber „zeitfremd“ war er nicht. Daß ihn der Tod mit 68 in seiner Erkenntnisbewegung unterbrach, entwertet nicht sein Werk .
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Konkretisierung von Hartmanns Leitthese an heutigen Erfahrungsbefunden
Man kann Schichtung bzgl. des Menschen annehmen mit jeweils höheren Garnituren von Kategorien:
Geistige Teilnahme = Kontinuum reicherer Art: Mitleben im objektiven Geist
Ichzentrierte Bewußtheit = intentional, aber an das Ichzentrum gebunden Abstammungszusammenhang =Kontinuum des Gattungswesens
Somatische Basis = Diskontinuität
Hartmanns Leitthese vom objektiven Geist als Formgeber der Gemeinschaft, die bei einer Orientierung an den Hochkulturen zu intellektualistisch ausfällt, ist an heutigen soziologisch-anthropologischen Erfahrungsbefunden zu konkretisieren.
In heutiger Sicht ist das, was das nicht klare Wort Gemeingeist meint, geschaffen durch Gegenseitigkeits-Bewußtsein und Symbol-Kommunikation. Symbole, Zeichen, Sprachen entstehen geschichtlich-gesellschaftlich, nicht naturhaft. Dies zusammen ergibt die eigene Schicht: objektiver Geist = culture. Im Einzelnen:
a) In allen uns bekannten Menschengesellschaften gibt es tradierte Weisen des Umgangs von Mann, Frau, Kind, Greis. Es gibt in den Cultures Muster, Normen, Riten, z.B. Initiationsriten, Formen der Begründung eines Familienlebens und Haushaltführens, des Konstituierens von Familienverbänden, der Funktionsverteilung , der Konstituierung von Autoritätsverhältnissen, Sanktionen gegen Abweichler (deviates), Anlernung für bestimmte Beschäftigungen, auch so etwas wie Bestattungsriten, die mehr als Schutz vor Leichengift bedeuten.
Alle diese Muster des Verhaltens, Bewertens, Deutens, alle Spielregeln der Gegenseitigkeit müssen irgendwann einmal von einem Gesellschaftsmitglied erfunden und dann von den anderen nachgemacht worden sein bis zur Verfestigung zu typischen Antworten auf die Hauptfaktoren des Umweltbezuges und des körperlichen Lebens. In Fortführung des Plessner- Scheler-, Cassierer- Entwurfs einer Philosophische Anthropologie könnte man formulieren: Wissenschaft von dem überwiegend nicht in erb- und körperanlagengemäßer und nicht in individualpsychologischer, sondern in überbiologischer und überindividueller, geschichtlich und gesellschaftlich gewordener Weise antwortenden Wesen Mensch.
Jede dieser Gesellschaften zeigt inmitten der Vielfalt ungeheuer andersartiger ihr einzigartiges Profil: vom Primitivsten bis zum Höchstkulturellen .
b) Das Vermögen des Menschen zum Erfinden und Gebrauch von Symbolen, die über ein individuelles Bewußtsein hinaus im Leben von Gruppen Bedeutung erhalten. Ein besonderer Fall davon sind die vielfältigen Muttersprachen, die die anderen Arten der Zeichenverständigung wie Gestik, Repräsentieren, Rituale, Tänze und Formen des Sichschmückens überbieten.
Neben der Verständigung steht das Bewältigen von Problemen durch Gruppenverhalten. Biologische Zweckmäßigkeit spielt bei den in der Hauptsache kultischen Handlungen und Vollzügen keine Rolle, die von belief-systems geleitet werden. Die Phänomene des social-cultural sind auch nicht psychologische. Übergeordnet sind Gegenseitigkeitsmuster. Das mehr als psychologische Interindividuelle in der frühkindlichen Entwicklung und von den Archäo-Kulturen an sind die sprachvermittelten Übereinkünfte (système sociologique d’alliance; Claude Lévi-Strauss). Die Sprache ist die konkret faßbare Formung des Gemeingeistes. Das Übereinkommen ist nicht notwendig bewußter Willensvorgang, sondern kommt durch unbewußtes Lernen und Anpassung zustande, in einer schon strukturierten Gesellschaft. In einer Sprachgemeinschaft (speech community) der Erwachsenen zu sein setzt das Aufwachsen in einer in bestimmten Formen sprechenden Gesellschaft voraus. Die in ihrem Gruppenverhalten noch nicht gesicherten kindlichen Individuen werden in eine Umwelt von schon zum System gefügter überindividuell verstandener Symbole hinein erzogen. Alle kulturelle Wandlung geht von Individuen aus, die selber schon culturally conditioned wurden. Die Kulturschöpfer, zumal Sprachschöpfer, Wissenschafts- und Methodenbegründer, die Kunststileerfinder kommen aus der vorhandenen culture einer konkreten Gesellschaft, somit besteht ein Bedingtheits- Zusammenhang der Innovationen zum bisherigen Leben des objektiven Geistes. Hier besteht Konvergenz mit heutigen Kulturwissenschaften (kulturphänomenologischer, soziologischer, zeichentheoretischer, linguistischer Art), die Hartmann noch nicht zur Verfügung standen. Auch deshalb bei ihm die unpräzisen Ausdrücke wie Gemeingeist. Die Kulturanthropologie geht von den Urformen menschlicher Gesellschaftlichkeit aus. Für sie ist die Formgebung im hochgeistigen Leben ein besonderer Fall. Das Gemeinsame beider Sichtweisen wäre das Kategoriale des realen Geistes, das sich als ein mächtiges System kreisläufiger Ursächlichkeit erweist, als über Zeitstrecken hin sich kontinuierlich selbsterhaltendes Zusammenhängen von Bewußtseinswelten und-entwicklungen. Das Eigentümliche des Zusammenhängens liegt kategorial im Weiterprägen soziokultureller Muster = pattern. Das ist das kategorial Neue der Wirklichkeitsschicht <Geist> , daß in jedem noch so „niederen“ menschlichen Gesellschaftsleben das Verhalten schlechthin von Praxis- bis zu Vorstellungs- und Bewertungsstilen geprägt ist. Die Sprachen sind die größten tragenden Systeme von Prägungen und Geprägtem. Sprechen ist das Vehikel der kulturellen Existenz des Menschen. Melville J. Herkovitz in Man and his works (1952, 440 ):
language is a system of arbitrary vocal symbols by which members of a social group cooperate and interact. This signifies that in its organization it is regular and not haphazard – that is, it is a system; and that as a series of symbols its meanings must be learned as must all other cultural phenomena…and by means of which the learning process is effectuated and a given way of life achieves both continuity and change…If a phenomenon has cultural relevance, it is because it holds meaning in thought and in behavior. This, in turn, is because men have the linguistic equipment to grasp and express its significance .
Also keine spiritualistische Philosophie der Sprache „vom Geist her“, keine Verklärung des Geistigen im Sinne der europäischen Hochkulturen und Geisteswissenschaften im deutsch-traditionellen Sinne. Die Loslösung Hartmanns vom „gefährlichen Erbe Hegels“ (Vorwort zur 1. Auflage von P) geschah „ immer wieder neu einsetzend“. Sein Buch trägt noch alle hinderlichen Narben des Kampfes mit dem Giganten Hegel, den er wohl erst spät gewann. Für „Leben, Macht, Wirklichkeit“ des objektiv Geistigen, der cultural patterns, gibt es heute andere Konkretisierung im Felde möglicher Erfahrung. Dadurch wird die Pioniertat Hartmanns aber nicht verkleinert . Er kam von Hegel weg zu dem erfahrbar Realen, das nicht materialistisch zu reduzieren, zu biologiesieren oder zu psychologiesieren ist. Man spürt den Vorzug einer Schichtenkonzeption. Verhaltensregeln, Sprachen, wissenschaftliches Forschen, künstlerische Stile, Religionen, politische und ideologische Systeme sind ein den Individuen objektiv Gegenüberstehendes.
Dagegen der Mangel der Hartmannschen Untersuchungen: Das Inter- und Supraindividuelle wird nur im Überbau ausgereiften Kulturlebens gesucht, nicht in seiner historischen und soziologischen Basis. Das wirklich Objektive sind die spezifisch menschliche Geschichtlich-keit und Gesellschaftlichkeit mit ihren begrenzten Konstanten im Geschichtsfluß und Kulturenwandel, ihrem langsamen Formungsprozeß, ihrer einzigartigen Stabilität und Labilität, in ihrer realen Evolution. Hartmann hat zu sehr den akademischen Betrieb der Geisteswissenschaften im Blick, als seltenen Fall seiner Anpassung an die Bildungs-institution <deutsche Universität>, der seine Landnahme in jener Wirklichkeitsschicht relativiert.
So sind aber auch die folgenden Anmerkungen nichts als Ergänzungsvorschläge aus der Sicht des Heute .
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Anthropologische Struktur der kulturellen Existenzweisen, die erlernt werden müssen
Menschen, auch die sog. primitiven, können nur kulturell existieren. Das ist die anthropolo-gische und ontologische Leitthese. Für Hartmanns Problem des geistigen Seins gab es cum grano salis doch nur die Geisteskultur und das „primitive“ und archaische Geist- und Menschsein wurde noch nicht zum Problem.
Hartmann war in seinem Methodenbewußtsein jedoch schon auf dem Weg von Kultur als dem idealisiert hoch Geistigen zu culture und patternment aspect, die jede, auch die sog. primitivste Menschengemeinschaft rund um den Erdball kennzeichnet; aber das empirische Material lag ihm nicht vor. Er wußte sehr wohl von seiner Bedingtheit vom Zeitgeist, aber er unterließ das heute modische Reflektieren auf den eigenen Standort .
In Abkehr von der uralten Vorstellung von kulturlosen, eigentlich tierisch lebenden Wilden ist nach der anthropologischen Struktur des cultural way of life zu fragen.
Ralph Linton, 1945: “A culture is the configuration of learned behavior”
Lernen ist ein Basisvorgang, der durch sprachliche Verständigung und Nachahmung von Verhalten vermittelt wird. Jegliche objektive geistige Formung, vorrational oder rational, ohne die es keine geordnete Menschengemeinschaft gibt, setzt Lernprozesse voraus, die zugleich soziale und geistige, aber nicht durchweg bewußte Vorgänge umfassen. Lernen gibt es auch im Tierreich, wie beim Kleinkind auch durch den Mechanismus Belohnung – Strafe. Da menschliches Verhalten nicht instinktgeleitet ist, (Ausnahme: Verhalten des Kleinkindes zur Mutterbrust), gibt es ohne Lernen nur individuelle Launen, auch bei Tieren. Auch Gewohnheiten sind nicht erblich.
Turney-High, 1949: Culture is the working and integrated summation of the non-instinctive activities of human beings. It is the functioning patterned totality of group-accepted and –transmitted inventions, material and non –material.
Coutu, 1949: Culture is one of the most inclusive of all the configurations we call interactional fields – the way of life of a whole people like that of China, Western Europe, and the Unites States.
Herskovits 1948: …culture is essentially a construct that describes the total body of belief, behavior, knowledge, sanctions, values, and goals that mark the way of life of any people.
Die Formulierungen sind so gewählt, um gleichermaßen anfänglichste und entwickeltste Verfassungen des Menschentums zu erfassen, auf den Menschen in der Folge seiner Entwicklungsstadien. Das fehlt bei Hartmann, der nicht bis zur genetischen und evolutionären Dimension vordrang.
Das Philosophisch-Anthropologische an der Cultural Anthropology ergibt sich aus den Formeln: gesellschaftlich-geschichtlich sich wandelnde Muster =pattern, vielfältige Systeme von Mustern, Fortwirken von Mustern in begrenzt großen Gruppen, Generationenfolgen und Epochen. Der Mensch, das nicht festgestellte Wesen, erfindet immer neue Versuche, sich festzustellen. Sie gelingen auf Zeit. Michael Landmann definiert den Menschen als animal inveniens in Fundamental-Anthropologie 1979. In diesem Sinne ist culturally conditioned und geformt von objektivem Geist gleichbedeutend. Wir kennen empirisch nur kulturell existierende Menschen. Objektiver Geist, so verstanden, reicht allerdings tiefer hinab, als Hartmann es sah.
Konvergenz mit der Cultural Anthropology geben folgende Hartmann-Zitate, P 187:
„Der objektive Geist ist weder Subjekt noch Person noch Akt, weder Bewußtsein noch Selbstbewußtsein. Die ganze Wendung nach innen ist zu seiner Fassung nicht nötig. Er ist ganz und gar Geformtheit, Geprägtheit, inhaltlich greifbare Gestaltung, und als historischer Geist deren Wandel und Werdeprozeß.
Alle Gebiete …müssen herangezogen werden: Recht, Sitte, Sprache, … Glaube, Moral, Wissen, Kunst,“ P186, (42).
Bei Tylor, Primitive Culture 1871, 43 heißt es:
„Culture or civilization…is that complex whole which includes knowledge, beliefs, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as member of society.”
Wichtiger als die Inhaltsmomente sind die Strukturfragen dieser Wirklichkeit. Das Phänomenmaterial der Erforschung bestimmter Cultures sind Verhaltens- Bewertens- Verstehens- und Gestaltensordnungen im Hinblick auf <Grammatik> und <Syntax> der Konfigurationen. Configuration and growth of cultural patterns ist das Thema und der Forschungsgegenstand der heutigen Kulturwissenschaft in Fortführung des Themas: objektiver Geist als Formgebung.
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Fortsetzung: Über die Enge von Hartmanns Geistbegriff hinausgehende Strukturen
Es geht nicht mehr nur um das Schichtungsverhältnis in der neuen Cultural Anthropology, sondern zunehmend um immanente Strukturverhältnisse und Systemtypen. Sie machen eigentlich das kategorial Neue aus, nicht das Substantiale, Numinose, Überirdische: <Geist >.
Der objektive Geist ist auch nicht Geformtheit schlechthin, sondern ein eigentümliches Reich mannigfaltiger, aber strukturvergleichbarer Ordnungen von Mannigfaltigkeiten. Menschliche Kulturen sind durch und durch Organisationen: von Aktivitäten, Interaktionen und deren Produktion. Die philosophische Hauptsache ist: Da ist kein darüberstehendes bewußt schaffendes Organisieren .
Jede Kultur erscheint der Empirie als ein Reich ineinander greifender, gesellschaftlich gemachter Ordnungen besonderer Sorte. Dieses Reich geht immer über den Horizont und die Direktive jeder einzelnen Bewußtseinswelt hinaus: in seiner Strukturiertheit und seinem Wandel. Eben damit, würde der spätere Hartmann hinzufügen, fordert und überfordert jenes dynamisch zu verstehende Reich von Ordnung die Verantwortung, der nur das menschliche Einzelbewußtsein aus seinem Ethos heraus zu dienen vermag.
Die metaphysische Voreiligkeit war, daß es einen übermenschlichen, geistigen Organisator geben müsse: Hegels universalen Geist-Gott. Das zielte weit über menschliche Erfahrung.
Die wichtigsten Phänomene innerhalb jeder einzelnen Culture haben selbst den Charakter spezifischer Systeme und bestimmter gegliederter Ausgestaltungen .
Da sind auf höherer Entwicklungsstufe: Mythologien, die Wissenschaften als Daten-, Methoden- und Aussagesysteme, die erschaffenen Gestalten- und allgemeinen Ausdrucks-systeme, von der Ornamentik bis zur Musik, die Normen- und Moralsysteme, die Staaten und staatsähnlichen Verbände. Technik und Wirtschaft sind große Systeme; Produktions- und Leistungssysteme und Tausch-Austauschsysteme auf allen Entwicklungsstufen. Anthropologisch-fundamental hinabreichend bis zu den Archaeo-Kulturen ist der Einschlag von Verschiedenartigstem: in den Sprachen, Alphabeten, Raum-und Zeitmessungen, aber noch konkreter in Riten, Zeremonien, Festordnungen, Spielen aller Stufen – alles überragend im sozialen Rollenspiel. Dessen Urzelle, von der primitivsten bis zur höchstkultivierten Lebensweise ist die phatic communion: zwischen Sprechenden und Hörenden and the reciprocity…by the change of roles. Dies bewirkt ein Netz von Bezüglichkeit – ties of union, atmosphere of sociability, personal communion. Die Situation des miteinander Sprechens , das give and take of utterances, binding hearer to speaker ist das Atom des menschlichen Du-und Du- Systems= social intercourse. Ohne Sprachbezug gibt es keinen spezifisch mensch-lichen Bezug. Wo die Rede-Gegenrede-Situation nicht zustande kommt, ist noch keine Sozialität menschlicher Art, kein Gemeingeist möglich, (Malinowski in: Ogden/Richards, The meaning of meaning, 1952, 315f). Ein Beispiel in Richtung von Hartmanns <Gemeingeist>: „… was Musik und Mythologie bei denen ins Spiel bringt, die sie hören, (sind) gemeinsame geistige Strukturen (Cl. Lévi Strauss, Mythologica I 1971, 46. Objektiver Geist ist ordnender Geist, hinausgreifend über subjektive und biologische Ordnung, ohne die ewige, metaphysische Ordnung zu sein.
Zusammenfassung aus der Negation:
Hartmanns Kernsatz, objektiver Geist sei Geformtheit, Geprägtheit, Gestalt, ist
unspezifisch für die geistige Wirklichkeitsschicht; diese Kategorien regieren im gesamten Wirklichkeitskosmos,
zu entbildlichen. Wir können auf diesem wie auch auf naturwissenschaftlichem Wirklichkeitsgebiet der Anschaulichkeit nicht mehr die zentrale Rolle einräumen, wie es Hartmanns Denk- und Wesensart wollte.
Kulturen sind Wirklichkeits- und Phänomengebiete, für die Hartmanns Gruppe von Kategorien des geistigen Seins zu eng ist. Vielmehr dominieren dort Kategorien wie: Sprachen, Zeichen, Symbole, Antworten auf Probleme, Stile der Vollzüge, Veranstaltungen, Hervorbringungen, Codes der Gruppenrelationen (z.B. Verwandschaftsbeziehungen). Solche Strukturen sind auch Gesellschaften eigen, die noch kein abhebbares Geistesleben haben. Objektiver Geist beginnt eben nicht erst da, wo schon Kultur im deutschen Sinn der Hochkul-turen besteht. Frühere, für den Ansatz wichtige Kategorien wie Gewohnheit oder Ausdruck klingen zu psychologisch, Lebensformen oder Lebensalter (der Kulturen) zu biologisch .
Wir müssen heute von dem handeln, was im Unterbau unter den Ausnahmefällen der Hoch-kulturentwicklungen schon da ist. Dort erst wird Geist-Theologie zu Geist-Anthropologie. Wenn mit der Dehegelisierung und Despiritualisierung von objektivem Geist Ernst gemacht wird, spitzt sich alles auf die Frage zu, was gemeinsame geistige Strukturen sind. Diese strukturieren Einzelbewußtseinswelten in der Gruppe, so Verhalten, Vorstellungen, Denken, Bewerten, Empfindungs- und Wahrnehmungsleben usw. und ermöglichen interindividuellen Kommunikationsaustausch in der fortlaufenden Einübung des Gebrauchs dieser mannig-faltigen Codes .
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Hartmanns zu eurozentrischer Geistbegriff
Hartmann gibt gefährlich zweideutige Konkretisierungen, die an Hegel u.a. anklingen: „Der Staat ist so die ‚innere Gestalt‘, die der Geist dem übernommenen Kollektivum gibt“. „Die Gemeinsamkeit des Geistes ist die Überbauung des Blutes“, P 210, 212. Andererseits sagt Hartmann, als geistiges Wesen sei der Mensch geschichtliches Wesen. Das ist besser als die schiefe Metapher vom Leben des objektiven Geistes. Also kein spiritueller, kein naturalist-ischer , sondern ein anthropologischer Geistbegriff, wenn ihn auch Hartmann nie so genannt hätte . Was überformt undeutlich den Wirklichkeitskern in der ein wenig scholastischen, unanthropologischen Trias: personaler, objektiver, objektivierter Geist? Hartmanns Geistbe-griff ist in Richtung auf den anthropologischen Kulturbegriff zu verlassen. Die Kulturwis-senschaften waren zu Hartmanns Zeiten noch zu embryonal, jedenfalls in der deutschen Binnenwelt. Er hätte aber Frazer, Frobenius und Lévi-Brühl heranziehen können. Doch er stützte sich mehr auf Naturwissenschaften.
Die prädominante Rolle des gemeinsamen Verstehens von Symbolen, des Mitagierens in gemeinsamen Sprachspielen berücksichtigte er nicht für das, was er papieren <Gemeingeist>, den Geist des <Kollektivums von Einzelpersonen> nannte. Das über Generationen hin Kontinuierliche bestimmter Kulturen hängt doch direkter an jenen Phänomenen. Man bedenke: Welch großartige Realität ist die Selbsterhaltung der jüdischen Kultur mit ihren uralten Verhaltens- und Glaubens-Patterns, bei allem Zerstreutwerden in andersartigste Kulturräume.
Warum ist Menschenwissenschaft später als Naturwissenschaft?: Der Mensch kommt am spätesten auf sich selbst. Der europäische Geist kam noch später darauf, da er das geistige Sein nur von sich selber ablas, indem er seine Geschichte für die Weltgeschichte nahm und seine Kultur mit der kulturellen Existenzweise der Menschen verwechselte. Der Eurozen-trismus war noch nicht durchschaut .
Seinen Studenten schärfte Hartmann immer das ausgezeichnete scholastische Begriffspaar ein und hielt sie an, bei der intentio recta, der Erfassung der Sachen selbst, zu bleiben und nicht auf die intentio obliqua, auf die Subjektsprozesse bei diesem Erfassen zu reflektieren. Aber er reflektierte wohl zu wenig, z.B. darauf, von woher die Wirklichkeit als Bau jener vier Hauptschichten gesehen wird; sowie darauf, von welchem Geist her, in welchem Gesellschafts- und Kulturentwicklungsstadium der Geist so gesehen wird. Hartmann spiritualisiert und abstrahiert das wohl anfänglich von Einzelnen entworfene, dann über ganze Gesellschaften, Räume, Epochen hin Weiterprägende der Kulturmuster, das so gut wie physikalische und biologische Konstanten feststeht, zu seinen Gehalten des objektiven Geistes. Diese sind ohne Zusammenhang mit den niederen Kultur-Fakten; man findet jedenfalls den Zusammenhang bei Hartmann nicht.
In Hartmanns Sprache sind es die „Gehalte und Inhalte“ des objektiven Geistes, in die der personale Geist jedes Individuums „hineinwächst“. Die Metapher ist insgesamt schief. Von Wachsen ist eben nicht die Rede. Das Hineingeprägtwerden ist immer schon „unterhalb geistiger Akte“ in der spezifisch menschlichen Sozialität am Werke.
Der springende Punkt ist folgender: Für die Prägekraft des Überindividuellen und Überbiologischen bedarf es nicht eines hegelschen absoluten Geistes ex machina, nicht das Szenarium von Hegels gewalttätigen Volks- und Zeitgeistern. Das Tradieren der bestimmten Verhaltensformen, Normordnungen und Wertorientierungen geschieht vielmehr höchst diesseitig: über die Entwicklungspsychologie des Kindes und sein Erwachsenwerden. Die Tiefenpsychologie muß erhellend beitragen: wie das ganz andersartig strukturierte infantile, juvenile, adoleszente Bewußtsein zum Aufgenommenwerden in die Bewußtseinswelt der erwachsenen Gesellschaftsmitglieder umgeprägt wird. Ohne diesen Realprozeß bestünden menschliche Gesellschaften nicht in der Zeit, gäbe es keine Kontinuierlichkeit. Die gesamt-menschheitlich belegbaren Initiations-Zeremonien skandieren den in vielem noch nicht geklärten Bewußtseinswandel. Hier geschieht reell und drastisch die Überbauung der beliebig-subjektiven durch gesellschaftlich-objektive, normgetreue Prägung. Die sublimierten Lehr- und Lern-, Vorbild-und Erziehungsprozesse, die Hartmann weitschweifig aufführt, spielen ersichtlich erst später auf einem „höheren“ Bewußtseinsniveau: Produkt von unvor-denklich vorausliegendem Ordnen und Weitergeben.
Beweist nicht Hartmann den objektiven Geist aus dem objektiven Geist, in dem er selbst aufgewachsen war? Diese Wertbevorzugung verstößt gegen die neue Ontologie mit ihrem Schichtungskonzept . Wieso konnte sich Hartmann von der tradierten Geistkonzeption nicht vollständig lösen?
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Die Schicht der objektiv geistigen Wirklichkeit als kulturanthropologische Realität
Es gibt, zum Schichtengefüge der erfahrbaren Gesamtwirklichkeit passend, eine Schicht erfahrbarer objektiv geistiger Wirklichkeit ; nur muß man diese von Mystifizierungen freihalten. Es gibt dort Kontinuität in Gebilden, die als geschichtliche Kulturwelten so real sind wie die anderen Dimensionen im Aufbau der realen Welt. Aber die Wirklichkeit von Kultur=objektiver Geist =culture hängt an der spezifischen Wirklichkeit des Menschseins: die Sprachen sind so wirklich wie die Sprechenden.
Jene Kontinuitäten gehören zu dem eigentümlichen Durch-die-Geschichte-Gehen des bewußt und unbewußt, vorstellend und wertend, Ordnungen schaffenden und umprägenden gesellschaftlichen Wesen Mensch. Von dieser kulturanthropologischen Realität ist der metaphysische Überbau der Themen <Kultur> und< Geist> ablösbar . Sprachen, Stile, Codes sind Präzisierungen objektiv geistiger Kontinuität, ohne die irrationale Substanz und Potenz <Geist>: auf die Erde versetzte, aufgeklärte Begriffe von Nicht-Naturhaftem, Menschen-bezogenem.
Könnte es sein, daß es im Ganzen mit der condition humaine nicht die abgründig tiefe Bewandtnis hat, welche die Religionen, Metaphysiken und emotiv getönten Konzepte von der Menschenexistenz ihr mit Pathos zusprechen? Sondern vielmehr die Bewandtnis der bis vor kurzem ungeahnten Differenziertheit und Durchstrukturiertheit? Diese sind heute empirisch erweisbar auch in der Welt und dem gesellschaftlichen Sein der sog. Primitiven . Die Sprachen der „Primitiven“ übertreffen z.B. im Hinblick auf Grammatik und Syntax diejenigen der Hochkulturen an Differenzierungsmöglichkeiten, wie Benjamin Lee Whorf in seiner Metalinguistik gezeigt hat. Auch hinsichtlich von Verhaltensreglungen und Verwandtschafts-strukturen (la parenté) ist Entsprechendes von außereuropäischen und archaischen Kulturen durch Lévi-Strauss u.a. überraschend bewiesen worden. Die Kunstwerke von nicht primitiven Primitiven in ihrer raffinierten Formensprache, die gemalte ideogrammatische Schrift der Chinesen, die Hieroglyphen sind andere Beispiele.
Die objektiv geistige Wirklichkeit reicht viel tiefer hinab und ist an aller menschlichen Existenz zu finden. Alle in globaler Kulturvergleichung sich zeigenden Formensysteme, Ordnungen und Sprachen sind von nichtbiologischer, interindividueller, menschenbezogener Art .
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Von Hartmann nicht thematisierte entwicklungsgeschichtliche Aspekte
Hartmann erkennt die Kreativität der einzelnen Person an und hebt sie hervor. Der <Spielraum der Persönlichkeit> ist eines der großen Themen seines Problemdenkens.
Das Personsein, das Innengeleitetsein, das geistige, nicht mehr geistlose Bewußtsein , bilden sich ja geschichtlich erst aus: nicht nur via objektiven Geist, sondern auch gegen ihn. Phylogenetisch muß sich die Ichwerdung dem zunächst übermächtigen objektiven Geist der primären geschlossenen Gesellschaften abringen; ontogenetisch aber dem Trieb-Es in unserem Unbewußten und dem in uns introjizierten Impersonalen wie der kollektiven Vorurteile, vor allem der Wert-Vorurteile. Was Es war muß Ich werden (Sigmund Freud).
Zwei Thesen für das Folgende sind:
Hartmanns Theorie des geistigen Seins würde anders aussehen, wenn er den genetischen, evolutionären Aspekt nicht ausgelassen hätte; dies freilich aus dem für ihn guten Grund, um nicht in hegelsche Werdens-Metaphysik zurückzufallen.
Das Fehlen der entwicklungsgeschichtlichen Bewertung des Subjektiven, Individu-ellen, Personalen führte zu dessen heute gefährlich erscheinender Geringbewertung gegenüber dem Objektiven. Andererseits wehrte die Einordnung in die Schichten-struktur der modischen Absolutsetzung des menschlichen Daseins in der Seinswelt: Nach- und Vorteile einer ontologischen Anthropologie, die es gar nicht geben kann.
Doch ändern Hartmanns letzte Schriften das Bild.
Dennoch genügt nicht das Schöpferische, Einmalige der menschlichen Einzelperson, das Hartmann gegen Hegels Monismus des übermenschlichen Geistes, dessen Wert-Vorent-scheidung für das Allgemeine als die Wahrheit ins Feld führt: die Person muß erst da sein und zwar als menschliche. Denn die göttlichen, mythischen und heroischen „Personen“ sind noch etwas ersichtlich anderes.
Hartmanns Unterteilung in personalen, objektiven und objektivierten Geist bedeutet ausdrücklich keinen Schichtenbau. Aber sie ist erst mit einiger Genauigkeit anwendbar, sobald eine ausgebildete geistige Welt geschichtlich schon konstituiert ist. Sie ist Sekundär-struktur, die Primärstruktur voraussetzt. Sie stimmt nicht in archaischem, magischem, mythischem Geschichtszeitalter . Das Wissen um dessen Strukturen entwickelte sich erst seit Bachofen und im ersten und zweiten Drittel unseres Jahrhunderts. Ob Hartmann Bachofens, Schulers, Lévy-Bruhls Werke kannte? Sicher nicht diejenigen Kerényis.
Der Altphilologe Nietzsche hat auf den Altphilologen Nicolai Hartmann intensiver eingewirkt als allgemein bekannt. Die hellenische Kultur ist von Homer an (an dem Hartmann unbe-schreiblich hing) Hochkultur. Man sieht gerade in deren Entwicklung das Hervortreten von personalem Geist besonders deutlich. Für den realen objektiven Geist werden die stärksten Zeugnisse heute aus Urkulturen beigebracht. Auch die Zeugnisse aus den Zeiträumen vor der griechischen Hochkultur zeigen uns die Tyrannis des Typischen , die Starrheit des Geprägt-seins. Spätere Entwicklungsstufen machen demgegenüber das Durchbrechen der individuellen Konzeption der Künstler-Persönlichkeit deutlich. Einem solchen Satz hätte Hartmann zugestimmt.
In seiner Natur- Philosophie berücksichtigt Hartmann das Neuartige: Riemanns gekrümmten Raum, Einsteins Gleichsetzung von Masse und Energie usw; nicht aber in den „überreflek-tierten“ Geisteswissenschaften die neuen Erkenntnisse über die Persönlichkeitsentwicklung, über die Entstehung des Ichs aus dem kollektiven Unbewußten und gegen dieses, aus dem „archaischen Erbe“ (Freud). Das Ich ist jünger als das Es. Da befürchtete Hartmann den Relativismus, welcher der natürlichen Einstellung zuwiderläuft. Im Buch von 1932/33 herrscht ein Macht-und Wertübergewicht des objektiven Geistes gegenüber dem Personalen. Später hat Hartmann das zu korrigieren begonnen .
Hegel relativierte die Wirklichkeiten des Geistes als Stadien und Gestalten in der Selbstver-wirklichung des absoluten Geistes. Das ist reinstes Systemdenken. Für Hartmann durfte es keine Vorentscheidung gegen das Subjektive geben, das wäre un-ontologisch. Aber in der Vorentscheidung zugunsten des Objektiven schwingt Hegels Degradierung des <Eigensinns> weiter. In der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit des Menschen, in society und culture hätte Hartmann Wirklichkeit des Subjektiven und des Objektiven untrennbar gefunden: in der kreisförmigen Bedingungsstruktur, die den Witz der Cultural Anthropology ausmacht. Im abgehobenen rein geistigen Leben freilich muß das Objektive sich vordrängen. Aber an Seins- und Realitätsgrad darf für den Ontologen das Subjektive nicht unter dem Verdacht der Uneigentlichkeit, Unechtheit, Ohnmacht stehen. Andererseits ist Hartmann, um sich einer Zeitmode nicht anzupassen, gegen die Überbewertung des Subjektiven.
So gilt insgesamt: In Hartmanns zu statischem Aufbau der realen Welt und des geistigen Seins ist das Evolutionäre, die Ausrichtung auf die Selbstwerdung des Menschen, nicht thematisiert. Aber dem Menschen muß es um sich gehen, nüchtern gesehen restringiert auf seine ontologische Position als Weltbewohner (Kant).
Das Existentielle erschien Hartmann maßlos übertrieben, als „Wichtigtun mit dem eigenen Dasein“ – bei der Unbedeutendheit der Menschenwelt in astronomischer Hinsicht .
(In einer halbseitigen Fußnote erinnert Wein an „die einzigen emotional verzerrten Sätze“ von Hartmanns „gediegenem Werk“: „das metaphysische Gaukelspiel der Angst, Unmoral zuchtloser Selbstquälerei,… so Martin Heidegger in seiner bekannten Analyse der Angst…, darin dem raffiniertesten aller Selbstquäler, Sören Kierkegaard folgend…. Gerade die Angst ist der denkbar schlechteste Führer zum Echten und Eigentlichen.“ Aus: Zur Grundlegung der Ontologie, 1935 S. 197 f.)
Diese astronomische Sicht ist aber nicht nur einseitig naturwissenschaftsgetreu, sondern vereinbar mit der Sorge Kierkegaards, des Vorbahners der Existenzphilosophie, in seiner Kritik der Gegenwart , um die heutige einmalige Gefährdung des Menschen durch den Menschen; sie ist vereinbar mit der Sorge des Menschen um sich – im Rahmen seiner ontologischen Möglichkeiten. Man kann nicht den Ursprung im jemeinigen Dasein suchen. Die soziologische Dimension hat ihr anthropologisches und ontologisches Fundament. Der Mensch hat sein gesellschaftliches und geschichtliches Feld. Hier hat er die begrenzte Macht, sich und die objektiven Zustände zu verbessern.
Das Subjektive und Personale und das Objektive und Institutionale sind als gleich wirklich anzuerkennen in der menschheitlichen und in der individual-menschlichen Geschichtlichkeit. Von daher steht Hartmann ja gerade gegen die einseitigen Ideologien der Gegenwart. Die Anerkennung dieser Gleichberechtigung in Hinsicht auf Wirklichkeit ist das Neue der ontologischen Sicht, ein Zusammenordnen von Einseitigkeiten in Richtung auf eine Philosophie im Zeitalter des Ausgleichs (Max Scheler).
Hartmann hätte das Folgende nicht gesagt:
Phylogenetisch ist der objektive Geist früher, gegen ihn muß sich der personale Geist erst herausarbeiten. Ontogenetisch ist der personale Geist früher, ihn vermag der objektive Geist erst in der Entwicklung sich anzubilden, und zwar über eine gesellschaftliche Einrichtung: die Erziehung. Das aus Kommunikation und Gesellschaft isolierte Individuum würde nicht zum Menschen, selbst bei subjektivem Innenleben. Schlechthin alles Geistige ist relativ auf einen Entwicklungsstand. Dies gilt vom personalen wie vom objektiven Geist. Statisch kann man beide nicht richtig erfassen. Die Strukturen beider sind dynamisch.
Diese Formeln hätte man Hartmann im „Zirkel“ durchaus vorlegen können – zur disputatio. Wer nur Hartmanns summenhaft wirkende Bände kennt, wird sich kaum ein Bild davon machen, wie es in seinem Disputationszirkel zuging, jedenfalls in dessen Berliner und Göttinger Zusammensetzung, die Wein vor Augen standen. Hartmann war nicht der Leiter des Zirkels, sondern höchstens primus inter pares. Den Vorsitz führte jeden Donnerstag ein anderer, die Aufnahme in den Kreis nahm nicht Hartmann vor, sie geschah durch Zuwahl .
Auf das Stadium des Erwachens des individuellen Bewußtseins folgt ontogenetisch und phylogenetisch immer noch erst das Stadium des Außengeleitetseins. In dessen gesellschaftlich-geschichtlicher Zeit sind eigenwilliges Verhalten, Handeln, Denken, sind Spontaneität, Selbstentfaltung, Bildung behauptender Sätze aus Egoakten und selbständigen Urteilen noch sekundär. Danach erst folgt die große Zeit des homo inveniens. Es ist die späte, vielleicht menschheitsgeschichtlich passagère Epoche des persönlichen Geistes, des einzigartigen, gestalterischen, anzweifelnd forschenden, und des Ethos der Persönlichkeit.
So etwa die bei Hartmann fehlende entwicklungsgeschichtliche Sicht. Die Wirklichkeit, von der Hartmann handelt, ist ein partikuläres Produkt der partikulären, europäischen Geistes- bzw. Kulturentwicklung.
Man hätte mit Hartmann durchaus über eine Erweiterung des geistigen, des soziokulturell Objektiven reden können, und zwar über den Rahmen der relativen Rationalität der Zivilisationswelt hinaus. Ob er freilich von seiner Bewertung des „höheren“ Geistes abgegangen wäre, ist zweifelhaft. Er dachte, von der Antike herblickend, durchaus noch eurozentrisch und zugunsten des immer noch Übermenschlichen am objektiven Geist. Denn Geist zieht nach altem Denkzwang nach oben und schwebt über dem Niederen. Jedoch wendet Hartmann seiner Intention nach das Geistthema gar nicht in platonisch oder christlich idealistischer oder in hegelscher Weise nach oben. Kommt von daher das Zwitterhafte seines Geist-Buchs? Ein Geisteswissenschaftler wollte er nicht sein, aber auch kein Naturwissen-schaftler. Und den Menschen, der von beidem nicht ausgeschöpft wird, wollte er nicht ins Zentrum stellen. Ist das nicht Hartmanns Aporie? Die Verzerrung der Proportion zwischen personalem und objektivem Geist wurde dann in der Hartmann zeitgenössischen Gesellschafts- und Geschichtswirklichkeit zum Ereignis.
Antiteleologisches Denken und Geschichtsauffassung
Wie im Vorwort zur 2. Auflage von 1949 ausgesprochen, hatte Hartmann verstanden, warum seine Thesen über die Macht des Geistes in faschistisch ungeistiger Zeit nicht zu veröffent-lichen waren. Aber Politisches lag Hartmann vielleicht zu fern, als daß er das Spiel der Ohnmacht des Individuums und des personalen Geistes durchschaut hätte unter dem Diktat: das Völkische hat immer Recht, das durch den Führer spricht. Sah Hartmann die gemachte Primitivität, die befohlene und pathetisch geschauspielerte Pseudoform des Gemeingeistes, die Rebarbarisierung (Adorno) zum Vorrationalen, die hinterlistige Metaphysik-von-unten der hitlerschen Mythos-Propheten?
Wer Hartmann näher stand, bekam allerdings zuweilen den Eindruck von seiner Ironie gegenüber Theater und Larifari, Gestenspiel und Aufmärschen, Sieg Heil-Geplärre und ekstatischen Feiern des hitlerschen Imperialismus.
Aber wichtig war die Désavouierung von Hegels Volksgeist-, Zeitgeist-Popanzen durch diesen heruntergekommenen, unechten „objektiver Geist“ der 12 großdeutschen Jahre. Leben, Macht, Wirklichkeit von deren Gemeingeist war dem archaischen Erbe entwendet und danach gefälscht. Das hätte Hartmann die nicht bloß metaphysische Gefährlichkeit Hegels klarer erkennen lassen müssen. Wäre 1949 ein Zusatzkapitel über Absterben, Ohnmacht und Unwirklichkeit des Geistes an der Zeit gewesen? War der personale Geist der Mussolini, Hitler, Stalin wirklich Instrument des Weltgeistes, der sie zu seinen Geschäftsführern machte? Diese Geschichtsphilosophie wurde durch die wirkliche Geschichte als unwirklicher Wahn entlarvt. So hat Hartmanns a-teleologische Lehre vom Geist etwas mit Geschichtsphilosophie zu tun, mit einer weder idealistisch-theologisierenden noch mit einer mechanisch materialistisch aufs Ökonomische reduzierenden. Hegel in statu evanescendi- in Hartmanns objektiver Geist-Theorie - dürfte zur jüngeren deutschen Geschichte gehören.
Trotzdem: Wieso darf sich das Buch im Untertitel eine „Untersuchung zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie“ nennen? Wegen des Anthropologischen 7, verstanden im Sinne des Hindurchgehens durch Hegel in anti-hegelscher Richtung – nicht hin zur Rechtfertigung Gottes in der Geschichte, sondern zur Exemplifizierung des Menschlichen in der Geschichte, genauer: der empirisch belegbaren, über das Psychologische und über das Biologische hinausreichenden Spezifität der Geschichtlichkeit beim Menschen.
Diese Geschichtlichkeit ist die sich wandelnde Konfiguration von konstanten Mustern menschlicher Verwirklichung, über mehr oder minder große Räume hin. Weder göttlicher Geist noch biologische Bedürfnisse dirigieren die Muster, die Konfiguration, den Wandel. Hartmanns Pioniertat, die Rettung der überindividuellen und überbiologischen Wirklichkeitsschicht des objektiv Geistigen aus der Konkursmasse der hegelschen teleologischen Unwirklichkeiten, ist für uns heute noch ein Wegweiser. Sie weist auf ein Geschichts- und Menschenbild ohne Metaphysik von oben oder Metaphysik von unten. Das mit objektivem Geist = culture Gemeinte gehört zu keinem der irrealen Extreme.
Geschichtlichkeit ist die halb-glückende Teleologie des Menschen, nicht das unreelle Wunschdenken, wie wenn der geschichtliche Mensch zum Ziel geführt würde, sei es geistig oder nicht geistig. Seine langsame Lösung von Hegel in der Geistlehre wird erst in der Antiteleologie zur klaren Kritik, siehe Teleologisches Denken, 1951. Der objektive Geist ruft alle möglichen Zwecksetzungen hervor, praktische, forscherliche, künstlerische, moralische, politische. Aber das Leben des objektiven Geistes hat kein Telos, das dem Ganzen Sinn gibt.
Hartmann gibt die wohl erste nichtchristliche, nicht theologisierend verklärende Lehre von geistiger Wirklichkeit. Eine solche hätte für Hartmann dem Schichtenbau widersprochen. Schriftlich hat er es nie so formuliert. Einmal sagte er, ohne weitere Kommentierung, er müsse Rücksicht auf seine Schüler nehmen.
Dies steht in folgendem anthropologischem Zusammenhang:
Die wirkliche Geschichtlichkeit des Menschen ist nicht Verwirklichung eines geistlichen Höheren-Allerhöchsten, der Mensch ist nicht Instrument der Idee (Hegel), sondern Verwirk-licher seiner eigenen Teleologie durch seine Zwecktätigkeit, sie immer wieder versuchend, immer wieder mit ihr scheiternd. Das Realphänomen <Menschengeschichte> zeigt im Unter-schied zu metaphysischem Wunschdenken nicht ein Erarbeiten einer übermenschlichen metaphysischen Vollendung.
Das nicht teleologische Denken ist der auszeichnende Charakter von Hartmanns gesamter Wirklichkeitsphilosophie; es ist insbesondere das Signum seiner Vorstellung vom Menschen, seiner unausgesprochenen Anthropologie, auf die hin er sich zubewegte. Erst in Teleologisches Denken, im letzten Kriegssommer in Berlin verfaßt und posthum gedruckt, und in einem Kapitel der zweiten posthumen Veröffentlichung Ästhetik (Berlin 1953, S. 406 f) wird der Zusammenhang ausgesprochen.
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Der Mensch als alleiniger Sinnschöpfer im Kosmos
Die einseitige Ermächtigung des Objektiven ist das heute Unpopuläre an Hartmanns Geist-Philosophie, mehr noch an der an diese gehängte Geschichtsphilosophie von 1933. Die Korrektur geschieht zuerst durch die kompromißlose These: der Mensch ist der alleinige Sinnschöpfer. Erst diese antiteleologische Anthropologie macht die Unvereinbarkeit mit hegelscher Metaphysik klar. Der Verdacht eines Zusammenhangs einerseits mit Hegels Geistkult, andererseits mit dem jüngsten Ungeistkult stehen heute noch gegen Hartmanns Rede vom objektiven Geist .
Hartmanns Wirklichkeitsphilosophie befriedigt nicht ein metaphysisches Bedürfnis. Aber sie stellt den Menschen an einen Ort, welcher den Thesen von Hartmanns späterer Persönlich-keitsphilosophie einen realitätsgerechten Rahmen gibt.
Sinn gibt es nur bezogen auf zweckbewußtes Tun, als zielbewußtes, planvolles Hervorbringen von Bedeutungsvollem, das virtuell über das Individuum hinauswirken kann, im Rahmen des zirkulären Bedingungszusammenhanges. Das sind geistige Akte des Menschen in einer Wirklichkeitswelt, die nicht schon Sinn von woanders her hat. In einer ohne ihn sinnerfüllten Welt wäre er mit seinen Gaben der Sinnverleihung überflüssig.
Aber dazu gehört mehr nicht-geistige Konditionierung durch Sozialstrukturen und Inter-dependenzen, als Hartmann es sah. Was Hartmann das „Kollektivum von Einzelpersonen“ nennt 8, ist altväterisch und überholt. Es fehlen noch die fundamentalen gesellschaftlichen Kategorien wie Gegenseitigkeit (réciprocité générale, système d’alliance); und es fehlen die Kategorien des Verstehens und Verstandenwerdens, der Ur-Verständigung durch Symbole. Robinson Crusoe wäre auch als Sinnschöpfer reine Fiktion, ohne seinen dann gefundenen Partner .
Das schmale opus postumum „Teleologisches Denken“, das eine Sonderstellung in Hartmanns opus giganteum einnimmt, ist härteste Antithese gegen religions- und spiritualismuskonforme Sinnlehren, die Sinn hypostasieren und ontologisieren zu einer wirklichkeitsdirigierenden Potenz und Instanz „von oben“. Diese anthropomorphe Tendenz soll entlarvt und enttarnt werden und aufgeklärter Anthropologie weichen (wenn Hartmann auch „Anthropo-logie“ nicht sagt). Die anthropologische Einsicht ist: der übermenschliche, höchste und tiefste Sinn wäre „Zwangsjacke des personalen Geistes“ 9. Hartmann konzipierte dies in Einsamkeit im schrecklichen Sommer 1944. Er war sich, wie er danach im Gespräch verriet, der Aggressivität bewußt . Hartmann rebellierte gegen die metaphysischen Bedürfnissen und Wünschen gefälligen Systemkonstruktionen in ihrer Jahrtausende alten Tradition, der Geschichte des längsten Irrtums (Nietzsche ), gegen die fehlende Grenzziehung zwischen Philosophie und Religion. Die Stipulierung von Sinn und Vernunft als Prinzip in der Geschichte ist für Hartmann die Unvernunft, das Unreelle an Hegel, sie ist, wie dieser es ja sagt, Historizidee. Auch wenn der damalige Hartmann dem objektiven Geist zu viel Recht gibt, er zieht mitnichten „den Geist Gottes“ herbei. Der objektive Geist ist diesem nicht verwandt. Hier findet die allseitige Mißverständlichkeit der „Neuen Ontologie“ denn doch ihre klare Grenze – für den intellektuell Redlichen .
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Nüchterner Humanismus: Weder Metaphysik noch Antimetaphysik
Die positive Seite von Hartmanns A-Metaphysik ist die Selbstbescheidung seines nüchternen Humanismus. Sein Diesseits und Mesotês restringieren das Himmelstürmende auf das im Schichtenbau der Gesamtwirklichkeit Reale an der Macht des Geistes.
In größerer Überschau stellt sich Hartmanns Philosophie für das redliche Wissen des Epigonen als eine bedächtige Denkbewegung dar. Sie beginnt mit der noch stark von den spiritualistischen Legenden Hegels geführten Entdeckung des neuen Wirklichkeitskontinents <objektiver Geist>, den die cultural anthropologists auf anderem Wege als Hartmann wissenschaftlich entdeckten . Der Ontologe ist es aber, der den objektiven Geist als so ateleologisch erkennt wie den übrigen Wirklichkeitskosmos, einschließlich der nicht spekulativen Geschichte. Daraus erst zieht der späte Hartmann die positive Konsequenz in seiner Sinn-Theorie. Diese verwirklicht das <Diesseits von Idealismus und Realismus>, das weder <Metaphysik von oben noch von unten>.
Das alles ist Geschichte einer Vermenschlichung von Hegels Übermenschentum. Und in Hegels Phänomenologie des Geistes steckten bereits Beschreibungen realer menschlicher Dialektik, wie Herrschaft – Knechtschaft, Aberglauben –Aufklärung. Hartmann hat auch dies zu entdecken begonnen in: Hegel und das Problem der Realdialektik, 1935.
Hartmann als den Statischen, den bei Altem Stehengebliebenen, den summenhafte Dogmatik Lehrenden zu sehen, ist der Grundirrtum über Hartmann. Er hat aber, wie die anderen Großen der Philosophiegeschichte, viel dazu getan, verkannt zu werden: als Problem-Denker, der einst gegen das Systemdenken schrieb: „Das konstruktive Denken hat ausgespielt…Es war von Anbeginn fragwürdig“. Die alte große „spekulative Systemkonstruktion“ hat sich im Relativismus und Positivismus „selbst überschlagen. Die Systemtendenz…ist endgültig gescheitert. Die Zeit der philosophischen Systeme ist vorbei.“ 10
Hartmanns Philosophie der Gesamt-Wirklichkeit will nicht zurück auf den reduktiven Begriff vom Wirklichen des Positivismus, des Logical Empiricism, gar des Materialismus, aber auch nicht auf die Begriffe von einem Überwirklichen der alten Verklärungs- und Trost-Metaphysi-ken. Diese sind Trug und Selbstbetrug, Irrweg und Abweg vom Wirklichen. Das ideale Sein ist dem neuen Ontologen weniger als das reale Sein. Dieses wird in teleologischem und finalem Denken verfälscht .
Der antireligiöse Impuls Hartmanns war kein emotionaler, sondern entsprach seinem Wirklichkeitsbezug in der natürlichen Einstellung. Das ist die gedankliche Logik von Hartmanns Wandlung und Entwicklung. Die Lösung vom Neukantianismus liegt weit in der Vergangenheit.
Dem Wirklichkeitsbezug in der menschlichen Lebenspraxis gerecht zu bleiben, war Telos und Sinn des Philosophierens für den philosophierenden Menschen Hartmann. Wer ihn außerhalb der Philosophie kannte, war tief beeindruckt von seinem intensiven Respekt vor der Wirklich-keit , der sich in seinem unreflektierten Vertrauen äußerte: Vertrauen zu den Sinnen, zum Handgreiflichen, zu Menschen, die ihm einleuchteten, -Vertrauen mehr zu den menschlichen und zwischenmenschlichen, den liebenden und überhaupt zu den<emotional transzendenten>, zu den praktischen, den ästhetischen Bezügen als zum Denkbezug auf Denkgegenstände 11.
Die atheoretischen Bezüge in ihrem Verbund waren Hartmann das natürliche, gesamtmensch-liche Weltverhältnis. Dieses Grundexistential wurde von ihm nicht philosophisch thematisiert wie etwa in der Lebensphilosophie, deren Verdienst er sah und lobte, die ihm vom Kölner Kollegen Scheler her ambivalent nah und fern war, sondern wurde gelebt. Mit dieser Grundeinstellung konnte er natürlich nicht in der abstrakten, nur das Theoretische gelten lassenden Denklogik der Marburger verbleiben.
Aber Hartmann blieb gegen Unvertraute abgeschirmt mit extremer Zugeknöpftheit und abweisender Schroffheit von oft baltischer Direktheit . Das Profil seines Philosophentums: Bescheidung ohne Ressentiment und Vertrauen ohne Leichtgläubigkeit, wurde nur sehr wenigen sichtbar. Was gesehen wurde, war der so professorale Professor, der stets Vorlesung im schwarzen Habit hielt; und waren die Riesenbände, die scheinbar die summa non-theolo-gica einer modernen Ontologie-Kosmologie geben wollten, auf der Grundlage der von ihm absolut respektierten positiven Wissenschaften. Und die dazu noch prätendierten, die Überwindung des Relativismus in den Geisteswissenschaften zu geben, vermittels einer den naturwissenschaftlichen Theorien ebenbürtigen Geisttheorie. 12
Wollte er seine Abschließung vom Zeitgeist? Wollte er im Grunde zu viel? Oder eben, wo er ganz im Eigenen war, vielmehr nicht: weil ihm die theoretische Summa nicht über die Fülle der Wirklichkeit ging? Denn diese entzieht sich dem Denksystem. Die Geisteswissenschaften waren für Hartmann nicht das Wissen von höherem Niveau. Die Umbiegung (reflexio) der natürlichen Einstellung, die „überkritische Reflektiertheit“ führte ab von der ihm in Anschauung, Beobachtung mit den Sinnen, Liebe zu Mensch und Sache vertrauten Direktheit des Bezuges auf Wirkliches. Schwerlich konnten ihm die Professionellen des Intellektual-betriebes folgen.
Auf den Weg zur Entlarvung der die Erkenntnis irreführenden, das Philosophieren verführenden Einstellungen, auf das Wahrsein und Unwahrsein von Einstellungen, ging er wohl erst umschweiflos klar in der für einen türkischen Schüler geschriebenen Erläuterung der Gesamtintention seiner Neuen Ontologie 13ein. Sätze daraus werden für das Folgende als Schlüsselsätze dienen.
Wenn von besonders kritisch reflektierenden, sophisticated philosophischen Wendungen gesprochen wurde, konnte man Hartmann barsch reden hören: „ Das ist etwas für Köpfe wie Sie und B., ich brauche das nicht mehr zu lesen…“. Sagte dieses „nicht mehr“ nicht viel ? Wie sollten Sophistikationen in der intentio obliqua seiner Grundintention der intentio recta = natürlichen Einstellung dienen? Der Hauptpunkt lag für den nüchternen Hartmann fest: Vom objektiven Geist nicht zum absoluten Geist weitergehen. Der objektive Geist ist struktur-mäßig oben, nicht wertmäßig. Dem Ontologen ist „der Geist“ nicht höheres Sein. Das empirisch faßbare Strukturenreich des objektiv Geistigen ist nicht zu einem spirituellen, idealistischen Entitätenreich oder Reich der Selbstentfaltung des allerrealsten Geistes zu verklären. Der reale Schichtenaufbau ist kein Wertaufbau, so sehr sich auch das menschliche Gemüt eine solche Hierarchie, mit getarntem theologischem Gipfel ersehnt. Diese Uraltsehnsucht ist selber ein Anthropologicum – Eskapismus und Flucht vor der Wirklichkeit. Die Erde und der Mensch gehören für den Astronomen Hartmann zum kosmischen Himmel, nicht zu einem transzendenten. Über diese Transzendenz findet sich nichts bei ihm, er hatte keine persönliche Erfahrung von diesem Überirdischen und Überhimmlischen, keine innerliche; seine ging über sein Teleskop. Vielleicht bedurfte er der jenseitigen Erfahrung nicht, denn sein Vertrauen in die diesseitige war grenzenlos. Seine Intention war, die Wissenschaft vom Geist nicht mehr, wie immer getarnt à la Geisteswissenschaften, auf einen reinen Geist hinan zu beziehen.
Den Gegensatz spricht Hegels machtvoller Satz am Ende seines Kapitels: Die Wahrheit der Aufklärung aus: „ Beide Welten sind versöhnt und der Himmel herunter auf die Erde verpflanzt“ 14. Es stimmt: an Hartmanns antiteleologischem Denken ist etwas Unversöhn-liches. Die Grenze gegen Illusion und Selbsttäuschung mußte kompromißlos sein, schon wegen des lebenslänglichen Kampfes gegen Hegel, den großen Verführer .
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Wiedergewinnung der natürlichen Einstellung
Daß Hartmann in der Grundintention mißverstanden wurde wie kaum ein Philosoph der Geistesgeschichte, konkretisiert sich an Folgendem: Wer hat verstanden und ausgedacht, daß seine Neue Ontologie ein einziges Hinstreben war zum wahrnehmbaren und anschaulichen Draußen? Das menschlich Subjektive gewann für ihn erst zuletzt in dem Ethos der Persön-lichkeit Wert, welches dem heteronomen, religiösen Ethos entgegengesetzt war. Der Wert des Persönlichen war nicht seine Innerlichkeit, auch hiermit wendete Hartmann eine christlich abendländische Einstellung um.
Denn so ist zu entziffern, was man in seinen eigenen Positionsbestimmungen nicht sonderlich beachtete: sie sei Wiedergewinnung der natürlichen Einstellung. Muß es nicht Theoria und kritisches Reflektieren sein? War dies nun Hartmanns Ideologie des Philosophierens aus Nicht-Innerlichkeit? Oder war sich dieser Philosoph nicht vielmehr der Grenzen des Philosophierens in seinem eigenen Menschsein bewußt?
Per negationem ist zunächst eines klar: die natürliche Einstellung steht antipodisch zu den hoch über das natürliche menschliche Wirklichkeitsverhältnis hinaus erbauten Systembauten, zum transzendentalen Reflektieren des Denkens auf sich selbst und seinen Quellpunkt – das ego cogito im Bewußtseinsinneren - zur cartesischen und husserlschen epoché vom äußeren Sein. Das cartesische Denken, das sich selbst als das absolute Gewisse und als den archime-dischen Punkt außerhalb der vielleicht trügerischen Wirklichkeit und unsicheren Wahr-nehmungswelt findet, leitete ja die neuzeitliche Form des Denkens des Denkens ein. Statt in der natürlichen Einstellung die äußere Welt, finden Descartes „Meditationes de prima philosophia“ die Spiritualitäten Seele und Gott erkennbarer (notior) als die res materiales.
Genau dagegen sagt Hartmann:
„Es bedarf (extremer) Beispiele, um zu ermessen, was es mit der radikalen Umstellung auf sich hat, die sich im Aufkommen der neuen Ontologie und im Wiedergewinnen der natürlichen Einstellung vollzieht. Diese natürliche Einstellung besagt, daß gerade das Reich der äußeren Gegenstände das am unmittelbarsten Gegebene ist, während die innere Gegebenheit der Akte des Denkens und des Erkenntnisverhältnisses erst eine vermittelte, in der Rückwendung von jenem aus gewonnene ist. Die reflektierte Einstellung eben setzt die natürliche voraus… In den Geisteswissensschaften hat die reflektierte Einstellung zum Relativismus geführt. Fragt man aber, worauf denn das Wahrsein einer Einsicht relativ sein soll, so bekommt man zur Antwort: auf die jeweiligen Lebensverhältnisse, auf praktische Erfordernisse und sozialen Lebenszuschnitt, letzten Endes wohl stets auf das geschichtlich Gewordene. Man meint, daß man damit nichts voraussetzte, was der Relativität enthoben sei. Man hat aber vielmehr den realen Gang der Geschichte als einen ihr enthobenen vorausgesetzt, und zwar unabhängig davon, ob und wie weit man ihn durchschaut und inhaltlich erfaßt.
Anders kann es ja auch im Relativismus nicht zugehen: dasjenige, „worauf“ alles relativ sein soll, kann nicht wiederum derselben Relativität unterliegen. Sonst hebt sich die Relativität des Relativen auf. Die Realität der geschichtlichen Welt, in der alle Einsicht und alle Geltung relativ sein soll, ist der Relativität enthoben.
In Wahrheit liegt also auch hier eine ontologische These zugrunde. Sie betrifft das geschichtliche Sein. Und gerade diese These ist die alles tragende Voraussetzung. Es fehlt nur das Wissen um sie. Man nimmt sie stillschweigend hin, indem man sie aus der natürlichen Einstellung unbewußt übernimmt, ohne dabei zu ahnen, daß eine solche Übernahme den Konsequenzen des Relativismus widerspricht.
Das ist das Schicksal aller überkritischen Reflektiertheit: Sie kennt ihre eigenen Voraussetzungen nicht, bekümmert sich auch nicht um sie; sie wendet die Schneide der Kritik gegen das Gegebene, nicht aber gegen ihr eigenes gewagtes Tun. Mit dieser Kritiklosigkeit wird sie selbst unkritisch. Wo sie nicht weiter kann und ohnmächtig zusammenbricht, kommen die ontologischen Voraussetzungen zum Vorschein, auf denen sie stand, die sie aber verkannte. 15
Zum Schluß sei …bemerkt, daß auch das Modeproblem unserer Zeit, das Relativismus-problem…, sich auf Grund des ontologischen Ansatzes behandeln und gleichsam unschädlich machen läßt….Alle faktische Bestätigung… hat ihren Grund im geschichtlichen Anwachsen der Erfahrung. Und dieses läßt sich weder vorwegnehmen noch beschleunigen 16:
– ein echter Hauptsatz der hartmannschen Bedächtigkeit und seines der Welterfahrung Gehorchens“ .
Aber noch charakteristischer weist das Folgende auf die Einstellung hin, aus der Hartmanns gesamtes Philosophieren kommt und die ihm die wahre ist. Man muß auch hier über ihn hinausfragen. Was alles meint er mit natürlicher Einstellung? Jedenfalls das, was aus der Ganzheit des menschlichen, mehr als denkerischen Weltbezugs kommt, aus der Fülle der menschlichen Welterfahrung, nicht von rein theoretischen Extremen her. Das Denken kann sich vom Seienden beliebig entfernen, es kann bei voller Folgerichtigkeit dem Irrealen träumend nachgehen. 17
Die natürliche Einstellung geht auf das Reich des Äußeren, dem durch Wahrnehmung Gegebenen, und auf die Realität des geschichtlichen Seins in dieser Welt. Dazu gehören die jeweiligen Lebensverhältnisse, die praktischen Erfordernisse, der jeweilige soziale Lebens-zuschnitt, das geschichtliche Gewordensein von allem, auch des Geistigen. Diese natürliche menschliche Einstellung inmitten der Erfahrungswelt und der Geschichtlichkeit ist primärer und wahrer als diejenige der philosophischen Theorien; diese gehen von metaphysisch oder antimetaphysisch konstruierten Extremen aus.
„Das metaphysische Bedürfnis des Menschen hat eine Vorliebe für die extremen Theorien. Leidenschaft für die höchsten Dinge, Verbissenheit oppositionellen Kämpfertums und sensationslüsternes Haschen nach dem Überraschenden waren sich von jeher eins in dieser Vorliebe. Darum ist fast alle metaphysische Systembildung, welchen seelischen Motiven sie auch entsprang, den Weg der extremen Theorien gegangen. Aber eben diese Theorien sind es, welche den grundlegenden Einheitstypus der Welt grundsätzlich verfehlen: sie müssen ihn verfehlen, weil sie extrem sind und weil dieser Einheitstyp kein extremer ist. Der Weg der Vernunft, dessen Eigenart es ist, der Welt sine ira et studio ihr Bild allererst abzugewinnen, war zu allen Zeiten unpopulär…,die seiende Welt…verharrt in großartiger Gleichgültigkeit gegen seine schwindelhaften Weltbilder. Aber sie offenbart sich auch nicht dem, der ihr ein erdachtes Schema aufzwingen will… Nach Allmacht des Geistes zu haschen, ist Größenwahn“ 18.
Man darf hinzufügen: im anderen Extrem alles Geistige insgesamt auf Reflexe des Materiellen zu reduzieren, ist Verkleinerung des Menschen und der Welt; aber dies ist
vielleicht nichts als Rückschlag nach der Enttäuschung des Menschengemüts durch die metaphysischen Luftgebäude .
„ Die alten Weltbilder haben alle die Welt verkleinert. Die erste Tat der neuen Ontologie ist das Niederreißen der künstlichen Schranken und die Gewinnung des Ausblicks auf die Größe der Welt“ 19.
Man kann diese Sätze, die eine neue Tonart in der Melodie der bekannten Philosophien anschlagen, über sie hinausgehend ausdeuten. Dann wäre mit <natürlicher Einstellung> das latente anthropologische Fundament der neuen Ontologie verschlüsselt, hin zum vortheo-retischen Wirklichkeitsbezug. Hartmann wollte nicht in die anthropologische Richtung von Scheler, Cassirer und Plessner gehen, sowenig wie Heideggers Fundamentalontologie das wollte. Sein und Zeit weist barsch die Philosophische Anthropologie ab, während Hartmann
Pessners zentrale Formel von der exzentrischen Positionalität abgewandelt heranzieht 20 . Die an Aristoteles geschulten Hartmann und Heidegger meinten, die neue Anthropologie, gemessen an Ontologie, als ein zu lockeres Denken zu sehen. Aber wäre nicht ein solches dem Problemdenken näher geblieben?
Wirkt nicht des Aristoteles <unbewegter Beweger>, den Hartmann im „Zirkel“ so grandios auszulegen verstand, als Strukturmodell nach in dem, was Hartmanns Theorie des objektiven Geistes „die ablösbaren geistigen Inhalte und Gehalte“ nannte? (75). Kommt damit nicht das Bewegte, Sichbewegende: das geschichtliche und gesellschaftliche Menschsein, die sozio-kulturelle Wirklichkeit des Muster Schaffens und Umschaffens, zu kurz über der Rede vom Sein. Liegt hier das heute Überholte von Hartmann und Heidegger? Diesem haben aber direkte und indirekte Schüler wie Sartre und Camus der Existenz die gesellschaftliche Dimension zugesprochen. Dagegen besagt die unklare Metapher vom Leben des objektiven Geistes wenig. Hartmanns Versatzbegriffe wie Gemeingeist und dessen Getragensein von Gemeinschaft oder Kollektivum sind ein schlechter Ersatz einer erhellenden Anthropologie, die aus empirischen Zügen das menschliche Sein erfaßt. Das sollte eingangs die Konfron-tation mit heutiger Cultural Anthropology belegen.
Klarheit bringen Hartmanns Hauptformeln: Metaphysik von oben – Metaphysik von unten.
Metaphysik von oben hat die Umbiegung (Reflexion) der natürlichen, gesamtmenschlichen Einstellung aufs Wirkliche zur einen Quelle, sofern diese Metaphysik nicht auf die uns gegebene äußere Welt, sondern auf Überwirkliches darüber und in uns eingestellt ist.
Metaphysik von unten hat die unbewußte Verkennung der natürlichen Einstellung zur Ursache, sie erklärt zu dem allein Wirklichen die jeweiligen Lebensverhältnisse, die praktischen Erfordernisse, den sozialen Lebenszuschnitt. 21 Dann soll dieser menschliche Erfahrungsbereich das Nichtrelative, also das Absolute sein. Das entschlüsselt den scheinbar paradoxen Ausdruck Metaphysik von unten (76 f).
Ebenso wie die spirituelle Metaphysik ein Eigentliches postuliert, neben dem alles Übrige sekundär sein soll, fordert es die Antimetaphysik vom ontologischen Monopol der materiellen und ökonomischen Verhältnisse. In beiden Fällen herrscht der selbe Denkzwang, der gleiche Schwindel angesichts der anthropologischen Gesamtwirklichkeit.
Die Pendantbeziehung zwischen Verabsolutierung des Oberen, Geistigen und der Basis, des Lebensprozesses, ist der Ariadnefaden aus dem alten Labyrinth von Metaphysik und Antimetaphysik. Das Durchschauen des gleichen Fehlers der künstlichen Einschränkung, der Vorliebe für das eine Extrem führt zu Hartmanns Weder Metaphysik von oben noch Metaphysik von unten. Diese Hauptformel definiert die „Neue Ontologie“ als Wiedergewinnen der natürlichen Einstellung 22 in der geschichteten Gesamtwirklichkeit .
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Die Schichtenlehre ohne genetische Dimension
Am Weglassen der anthropologischen und der soziologischen Wirklichkeitsschicht hängt zweifellos eine fatale Folge für das hartmannsche Wirklichkeitskonzept. Zu den überholten Passagen des Buches von 1933 wurde Hartmann von einer gewissen Vorliebe für das Statische, das in gutem Handwerk solide gebaute Gefüge irregeführt. Nicht dynamische Strukturen spielten in seiner Ontologie eine größere Rolle, als sie es wohl für den natürlichen menschlichen Weltbezug tun. Zu genetischen Fragen ließ er gerade noch einen Satz zu: Der Mensch sei wohl das späteste Gebilde der Welt. Ein Evolutions-Monismus, gerichtet auf das Sinn- und Wertziel des Weltprozesses, hätte zur Ablehnung der Metaphysik von oben und derjenigen von unten ebenso wenig gepaßt wie ein spiritualistischer Dualismus oder gar eine Werdensmetaphysik à la Schelling. Aber es dreht sich im Folgenden um Hartmanns Verschlossenheit gegen die heutige entwicklungsgeschichtliche Kosmologie, die doch ihrer-seits auf eine Folge von Schichten (levels) kommt.
Selbst im Gespräch und im Disputationszirkel galt die Sprachreglung: Die Schichtenfolge dürfe nicht als eine zeitliche verstanden, nicht als eine metaphysische Geschichte gelesen werden 23 (78). „Das wäre wieder Metaphysik“! sagte er, als er nach einer genetischen Lesart seiner Schichtenlehre gefragt wurde. Ein Aspekt seiner philosophierenden Bescheidenheit? Kant war das Leitbild für die Restriktion, - bei aller Haßliebe zu dem grandioseren Hegel. (Hartmanns Exemplar von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ mußte bei Immerwiederlesen soviel Unterstreichungen hinnehmen, daß zum Schluß jede Zeile unterstrichen war).
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Schichtenlehre und genetische Dimension
Darf heute mit Recht die genetische Dimension als eine metaphysische gelten? Schlägt bei Hartmann unbewußt die Opposition gegen das Muster der jüdisch christlichen Legende durch? Mit deren Geschichtsmacht und Prägekraft durch die Jahrtausende maß sich nur der aristotelische Gedanke einer metaphysiké, und später der einer wissenschaftlichen Metaphysik. Die Großen der europäischen Metaphysik waren bis zu Hegel ahistorische Köpfe. Stand Hartmann doch noch mehr in ihrer Tradition als in der Nähe dessen, was Alfred North Whitehead mit dem Titel seines Hauptwerks ausspricht: „Process and Reality“ (1929)? Alle heutigen Wissenschaften laufen eher auf Prozessualität als auf Sein hinaus.
Für den aufgeklärten Atheisten Hartmann kam als Schöpfer nur der Mensch in Frage, in sehr begrenztem Maße. Dieser ist kein creator ex nihilo – Inbegriff theozentrischer Metaphysik und Schöpfungsgeschichte. Damit soll und kann der kategoriale Aufbau der realen Welt nichts zu tun haben. Aber Hartmann hätte nicht zusammen mit dem aus metaphysischem Bedürfnis stammenden Schöpfungsgedanken den Evolutionsgedanken aus Erfahrungsbe-funden verwerfen sollen .
Wieso kommt Hartmanns Schichtenlehre nicht bei der höchsten Seinsschicht auf die empirisch-kulturwissenschaftlich belegbare Struktur-Revolution und Evolution der höchsten Größenordnung? Selbst und gerade Hegel stellt diese großartig klar: an seinem Beispiel des Sokrates:
„So hatten die Griechen in ihrer blühenden Periode, in ihrer heiteren Sittlichkeit, nicht den Begriff der allgemeinen Freiheit; sie hatten wohl das kadekon, das Geziemende, aber keine Moralität oder kein Gewissen. Moralität, was Rückkehr des Geistes in sich, Reflexion, Flucht des Geistes in sich hinein ist, war nicht da, das fing erst mit Sokrates an. Sobald nun die Reflexion eintrat…,da entstand das Verderben, der Widerspruch“ 24.
Nirgends steht bei Hartmann da, was doch heute wissenschaftlich klar ist: Überindividuelle und nicht biologische Muster und ihr Weiterwirken in Zeit, Raum, ganzen Gesellschaften und Nationen, also objektiv Geistiges hat es schon lange gegeben, bevor es je eigenes, geistiges Subjektleben gab. Ist da die gleiche Ablehnung der Genesis am Werk wie hinsichtlich der kosmischen Schichtenlehre? Oder war Hartmann blind für das Relativsein seiner Geist- und Geschichtsphilosophie auf den Raum und die späte Epoche innengeleiteter, oft schöpferischer Iche und vollbewußter Akte? Dieses Relativsein auf die Geistesgeschichte macht die Geisttheorie ja nicht zu etwas Irrigem, nur zu etwas entwicklungsgeschichtlich Partikulärem.
Hegels Geschichtsphilosophie sieht auf die Geschichte wie von außerhalb ihrer. Dies eben war Systemkonstruktion. Hegel nahm bekanntlich seine Wissenschaft der Logik zur Grundlegung seiner Philosophie der Geschichte. Aber dieses Unikum einer Wissenschaft wie auch Logik ist für ihn nicht ein Buch des Menschen Hegel über Logik . Vielmehr schreibt sich da der Logos selbst nieder, als Synonym für den Geist-Gott. Dessen, des absoluten Schöpfers, Sprachwerdung in der schrittweise selbsterschaffenen Wissenschaft von sich selbst folgt ihrer Geist-Logik, d.h.: nicht dem realen Geschichtsgang. Gerade so darf, ontologisch gesehen, die Entwicklungsgeschichte nicht voreingenommen und extrem uminterpretiert werden: zu der theologisch schillernden Selbstverwirklichung des Geistes; dieser, das steht schon von vornherein „logisch“ fest, ist das letzte dirigierende Entwicklungs-telos, - der Anfang und das Ende.
Struktural dasselbe ist es, in den Geschichtsgang ebenso gewalttätig gegenüber den Erfahrungsbefunden „von unten“ = antimetaphysisch die notwendige Fortschrittsverwirk-lichung hineinzuinterpretieren. Feststeht von vornherein deren letztes Ziel, die Aufhebung der geschichtlich gewordenen bisherigen Strukturen als Entfremdungen.
Die bloß umgedrehte hegelsche Teleologiestruktur wird deutlich. Fielen nicht die so diametral verschiedenartigen Denker über das weltliche und geschichtliche Sein: Hegel, Marx, Hartmann in den einen gemeinsamen Erzfehler der Metaphysik zurück, darüber wie von außerhalb zu philosophieren?
Nicht von Marx stammt das Dogma, der Geschichtsprozeß sei determiniert, wie die Natur von erkennbaren Naturgesetzen. Außerdem haben sich in den Naturwissenschaften die Begriffe: Notwendigkeit, exakte Determiniertheit, Naturgesetz gewandelt.
So vieles warnt uns Epigonen also vor der genetischen Interpretation – „über die Grenzen der Erfahrung hinaus“. Da würde freilich unser menschliches Sinnbedürfnis befriedigt. Der neue Ontologe möchte aber mit dem Kant des Antinomienkapitels diesseits der Thesen und Antithesen über die Welt bleiben.
Die positive Seite von Hartmanns neuontologischem Stil ist, Philosophie nicht weiter eine Sache der Extreme, Ismen, Systeme sein zu lassen. Negativ dagegen ist die weitgehende Verschlossenheit gegenüber der evolutionären Dimension in Hartmanns Kategorienbau, auf kosmologischem wie auf dem soziokulturellen Wirklichkeitsgebiet . Erst kurz vor seinem Tode hat er sich selbst korrigiert. Die lange Vernachlässigung des Dynamischen bei diesem Philosophen der Stabilität kann vielleicht auch das Fehlen von politischer Philosophie in seiner Geschichtsphilosophie erklären. Hartmann sah, daß Hegels Weltgeist-Philosophie uns die falsche, die erbauliche, erfahrungswidrige, von oben determinierte Evolution aufreden wollte. Der redliche Kant dagegen schloß die Entwicklungsseite nicht aus, selbst nicht ganz in seiner Lehre von den Stadien menschlicher Erkenntnis. Erst zuletzt waren Hartmann die Erkenntniskategorien Niederschlag des Sichanpassens des Menschengeistes an die Wirklich-keitswelt 25. Den von einem Schüler und späteren Kollegen bevorzugten Ausdruck: „Erkennt-nis-Geschichte“ billigte Hartmann.
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Evolutionärer Humanismus gefährdet nicht die Konzeption des a-teleologischen Kosmos
Für Hartmann kam die Frage in der intentio obliqua nach der Konstitution der Schichten aus denklogischen Schritten (im Sinne des Neukantianismus und Logischen Idealismus) nach dem Verlassen des Marburger Weges längst nicht mehr in Betracht. Er sah es wohl als Ameta-physiker so: jede spekulativ konstruierte Genesis, sei es von oben = Schöpfung, sei es von unten= Evolution oder aus dem < ich denke > = Konstituieren würde die Befreiung vom Systemdenken rückgängig machen, von der Prätention, die letzte Antwort zu haben, würde wieder in die Aporie: Metaphysik – Antimetaphysik zurückführen. Aber so wurde er der empirisch belegbaren Genetik in der physischen und biologischen, psychischen und kulturellen Welt nicht gerecht. Er sah weg von Ontischem. Er war aus Angst vor Metaphysik voreingenommen für Ontologie .
Durch das Konzept einer Seinslehre kommen bei Hartmann immer noch Irrtümer über die Strukturalität der wirklichen Welt in die Neue Ontologie hinein. Neu war sie gegenüber der alten Philosophia Prima sive Ontologia, aber überholt gegenüber den verschiedenartigen heutigen Konzeptionen von der durch die Wirklichkeitsschichten durchgängigen Dynamik. Diese wird mit <Kategorien> ebenso wenig glücklich erfaßt wie die soziokulturelle Wirklichkeit mit <Geist>.
Dem Anti-Teleologen durfte man nicht kommen mit des Biologen Huxley evolutionärer und zugleich neuhumanistischer Weltphilosophie, die ja auch mit einem Schichtenaufbau operiert:
the consciously purposive phase of evolution = Noosphäre bei Th. de Chardin
the psycho-social
the biological phase of evolution kommt für Julian Huxley from the inorganic
Durchgängig wird die Schichtung dynamisch-genetisch verstanden.
Noosphäre: Letztes bisheriges Evolutionsstadium ist die menschengemachte, die zweite Welt der Bedeutungen, Symbole, Sprachen, im Sinne z.B. Ernst Cassirers; es ist eine geschichtlich gewordene und weiter werdende.
Biosphäre: Darwin rückte den Menschen in den Biokosmos, zufolge des Deszendenzzusammenhangs alles Lebenden, der mitsamt allen seinen Verästlungen vom Protozoon zum homo sapiens aufsteigt.
Kosmossphäre: Die Wissensevolution von der geozentrischen zur heleozentrischen Auffassung rückte den Menschen in das physikalische All auf eine nicht ausgezeichnete Stelle X. (Nietzsche: Seit Kopernikus rollt der Mensch ins X). Demnach geschieht alles menschliche Geschehen in jenem globalen Prozeß : Universum, je in einer cosmic epoch (Whitehead).
Derartige heute sehr gesicherte Konzeptionen haben ihre Grundlegung in den Realwissen-schaften, in dem von diesen erkannten dynamischen Aufbau, genauer: in der Synopsis der heutigen Wissenschaften. Jedenfalls stehen sie nicht auf metaphysischem, spekulativem, altontologischem Urgrund.
Aber wenn man im „Zirkel“ davon sprach, sah Hartmann seine Philosophie radikal verkannt. Dieser evolutionäre Humanismus ist kein Anthropomorphismus; der Mensch erkennt sich nicht als Ziel und Krone der Welt. Aber es steht kein empirischer Befund gegen die Hypothese, daß er das letzte Produkt des produzierenden Prozesses <Welt> ist. Darin ist eine nicht teleologische, vielmehr genetische Beziehung impliziert. Alle Schichten und Sphären sind dem Ergebnis der menschlichen Individuation genetisch vorgeordnet. Der Mensch „geschieht“ in der kosmischen Gesamtdynamik, ohne dessen Transzendieren zu einer überweltlichen Geistesallmacht . Das entspricht dem nüchternen Humanismus Hartmanns, der innerweltlichen menschlichen Autonomie und Freiheit der Sinnschöpfung im Rahmen des durchgängigen Schichtungsverhältnisses.
Der wissenschaftlich Denkende kann den evolutionären Aspekt nicht mehr ignorieren.
Hartmann verdächtigte die dynamischen Strukturen zu Unrecht, metaphysisch-teleologische Sinngebung zu postulieren, weil doch für ihn Sinnhaftes nur durch sinnvolles menschliches Handeln erbracht werden kann .
Durch die übersteigert und pros hémas gedeuteten Geist-Phänomene war der Mensch für die platonisch-christliche Metaphysik hineinbezogen ins Übernatürliche. Ontologisch nüchtern gedeutet muß der Mensch hineinbezogen werden in die Schichten und Stadien des a-meta-physischen Wirklichkeitskosmos. Das ist Anthropologie. Und dies ist das Problem des geistigen Seins. Der Wirklichkeitskosmos ist nicht mehr gleich Natur, sondern Universum der Wirklichkeit und Evolution von Strukturen. Zu diesen gehören die eigentümlichen, aus gesellschaftlichen Zusammenhängen bewußter Individuen sich bildenden Strukturen, die objektiv geistig und cultural heißen, und deren eigentümliche Geschichtlichkeit. So verstanden ist Hartmanns <reale Welt> weder die eines naturwissenschaftsgläubigen Naturalismus noch einer inkonsequent getarnten Seinslehre alter Sorte. Das Objektive am Geist ist, daß er weltlich ist. Die weltlichen geistigen Strukturen verleihen der Welt nicht übermenschlichen, anthropomorphen, spirituellen Sinn.
Aber Nicolai Hartmann ist trotz seiner fortlaufenden Selbstkorrekturen ( =Dehegelisierung) der Versuch nur halbwegs geglückt, die Grenze gegen die letzte große, Hegels Geist-Metaphysik zu ziehen .
Leitthese bei dieser nochmaligen Auseinandersetzung mit Hartmanns Problem des geistigen Seins ist: Es ist die Bruchstelle. Indes das Mitschleppen primitiver Ersatzbegriffe für Struktur hemmte Hartmann in seinem Kampf gegen Hegel und anderes Verführerisches. Veraltete Kategorien wie Gemeingeist, Volksgeist, Zeitgeist oder Vernunft und Logik der Geschichte sind Maskeraden nüchterner Strukturthemata. Hartmann hat seine Geisttheorie mit der ihm eigenen Tapferkeit gegen das Eindringen von Geist-Idealismus und - Teleologie verteidigt, und zwar kritisch in seinem bei Kant Bleiben. Selbst und gerade das Teleologische Denken gewinnt dem Unsinn des Weltsinns Sinn ab, versteht die Noumena auf anthropologische Weise positiv. Er hätte die Sinnprojektionen nicht als ausgelaugte Positivitäten (Adorno) nur begraben in der Geschichte beliebiger Irrtümer .
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Auseinandersetzung mit und verbliebene Nähe zu Hegel
In dem heutigen Leser des „Problem…“ kann der Verdacht erwachen, Hartmann sei zu ganz anderen Ideologien in eine mißverständliche Nähe gekommen.
Das Buch wäre freilich nicht denkbar ohne Hegels Kolumbustat, vor allem ohne das Reale in Hegels „Phänomenologie des Geistes“: die interpersonalen Gegenseitigkeitsverhältnisse: das eine und das andere Selbstbewußtsein, Ich und Du, Herr und Knecht. Darin steckt Wichtigeres zur Struktur menschlicher Sozialität als in Hartmanns archaischen Begriffen: Gemeingeist, Gemeinschaft im Kollektivum…
Hegel stellt aber auch als erster europäischer Philosoph das Geschichtsthema ins Zentrum des Philosophierens. Eben hier aber kulminiert Hegels Lüge im Prinzip. Die enorme Gefährlich-keit (vor allem für den Geist der politischen Deutschen) ist an Hegels Geschichtsdeduktion längst erkannt. Schon Hegels Titel: Die „Vernunft in der Geschichte“ oder sein Satz: „Alles Wirkliche ist vernünftig“, provozieren maßlos.
Hartmann war sich dessen bewußt in seiner „langjährigen, immer wieder neu einsetzenden inneren Auseinandersetzung“ mit Hegels Philosophie des Geistes.
„ Daß bei Hegel hinter der Metaphysik des Geistes ein wertvolles Stück echter, an der Geschichte gewonnener Phänomenologie des Geistes steht…, ist eine Einsicht, deren Gewicht mir erst langam, im Maße meines eigenen Loskommens von der Hegelschen Dialektik und Metaphysik zum Bewußtsein gekommen ist“. „Es will mir scheinen, nicht einmal das gefährliche Erbe Hegels ist im Sinne seiner fruchtbaren Intentionen ausgewertet worden“ 26
Wie alle die großen Antihegelianer blieb Hartmann im anti-Hegel Hegelianer, wie Kierkegaard, Marx, Jacob Burckhardt, selbst in einer Ecke Heidegger; zu schweigen von den Vorbereitern der kommunistischen Revolutionsideologie à la Alexander Herzen und Michael Bakunin: wahrhaft sonderbare Produkte von Hegels Panspiritualismus, den seine Zeitgenos-sen zu seinem Ärger zum Teil für Pantheismus hielten . Er sieht diesem zum Verwechseln ähnlich. Nur daß der Gott nicht der christliche Seins-Gott oder der aristotelische unbewegte Beweger ist, ja mit diesem nicht die geringste Ähnlichkeit hat. So blieb auch Hartmann auf geschichtsphilosophischem Feld ein guter Hegelianer, d.h. ein erschreckend unguter.
Das eigentliche Paradoxe ist, daß nicht Hegels Überkategorie Geist, die ja wirklich zu neuer, fragwürdiger Systemgrundlage wird, in das an Hartmanns Geist-Wirklichkeits-Theorie Un-wissenschaftliche und Irreale eingeflossen ist. In Hartmanns fundamentaler Schrift von 1923: „Aristoteles und Hegel“ 27 hatte er bereits das proton pseudos der Bevorzugung des Allgemeinen vor dem Individuellen beim Seinsphilosophen und Initiator der Metaphysik Aristoteles und beim Geistphilosophen und Übersteigerer des Systemdenkens Hegel durchschaut.
Die Grundlegung durch Aristoteles wurde geschichtlich vorbahnend für die Ontologie der mittelalterlichen Kirche. Hegel gab eine neue Historizidee aus dem Rechtbehalten des Allgemeinen gegenüber dem Besonderen, auch wenn jenes zerstörerisch war, - die letzte Verklärungs- und Trost-Metaphysik im Namen des absoluten Geistes. Er proklamierte sie am Abhang der Antimetaphysik, die in Marxens Antispiritualismus und Anti-Philosophie („Ende der Philosophie“!) geschichtsmächtig wurde. Hier blieb die Unfehlbarkeitserklärung der Geschichte von hegelscher Struktur, einschließlich Hitlers Berufung auf die Vorsehung.
Von diesem geschichtlich-wirklichen Ort her erhellt das Originärste der von Hartmann versuchten neuen Grundlegung. Sie gilt einer Ontologie, die auch das geistige und geschichtliche Sein erfassen will, nicht unter ein Allgemeines, Absolutes, sondern in den Bedingungszusammenhang der anderen Seinsschichten gestellt. Und so entspricht diese Grundlegung der Erfahrung, dem anthropologisch natürlichen Inderweltsein . Aber in dem Buch mit dem Untertitel: Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften war Hartmann noch auf der Suche nach der Mitte und erst im Loskommen vom extremen hegelschen Strukturmodell.
Das heute fatal Klingende im „ Problem…“ hängt an den mittleren Instanzen zwischen Hegels subjektivem und absolutem Geist: am Volksgeist und dem diesen repräsentierenden „welt-geschichtlichen Volk“, am Zeitgeist, der je alles in einer Epoche regiert, was sich ereignet. Hartmann respektierte, daß Hegel neben Abstrusem auf etwas Wirkliches zielte, nämlich auf eigentümliche Prägekräfte, die die Kulturen strukturieren. Diese sind etwas empirisch Faßbares und je Individuelles. 28 Andererseits hängt viel Fragwürdiges an der hegelschen und hartmannschen Überzeugung von der Macht, ja Übermacht von Volksgeist und Zeitgeist über die Individuen. Diese Überzeugung war Glied einer Struktur politischen Denkens, vergröbert gesagt: einer antirevolutionären Grundüberzeugung und Hörigkeit gegenüber der Geschichte aus dem objektiven Geist. Dieser war Macht, die Recht hat! Syndrom sind natürlich Hegels Geschichts- und Staatsvergottung. Das schwingt bei Hartmann nur noch bläßlich mit. Aber bei ihm kommen Macht, Recht und Staat noch aus einer Quelle: dem objektiven Geist! Erst viel später sah Hartmann das Negative daran. Hat der vom geschichtemachenden Führer befohlene Volks- und Zeitgeist ihm zu denken gegeben? Seine Abneigung gegen Spiritualismus und Idealismus führte ihn viel später zu einer bedingten Aufgeschlossenheit gegenüber dem Historischen und Dialektischen Materialismus, die wohl wenig beachtet worden ist, aber ohnehin folgenlos geblieben ist 29. Hartmanns letzte Entwicklung nahm einen anderen Weg: von Hegels allgemeiner Sittlichkeit, die bei Marx modifiziert noch da ist, zum „Ethos der Persönlichkeit“. Das wurde aber nicht ins individualistische Extrem getrieben, sondern blieb eingebettet in das Zusammenspiel der Persönlichkeiten und in die nichtgeistigen Konditionierungen.
Immerhin: es gab politisch den Hartmann, der nie den geringsten Kontakt zu NS-Philosophie hatte, der die Aufforderung zum Eintritt in „die Partei“ schroff zurückwies, der im „Zirkel“, in dem auch Nichtaltbekannte und Ausländer saßen, nach 1933 einen Satz beginnen konnte: „Daß Hitler kein großer Mann ist, zeigt sich daran…“. Ihn hat der „Führer“ nicht dazu verführt, diesen für einen „Geschäftsführer des Weltgeistes“ (Hegel) zu halten. Wäre Hegel dem entkommen?, der Napoleon als den Weltgeist zu Pferde sah. Da waren freilich genug Unterschiede der Persönlichkeit. Und von der Verführung durch Hegels Geistsystem loskommen, hieß auf die Verführung durch Hitlers geistloses Machtsystem gar nicht erst hereinfallen. Trotz alledem erspart uns Hartmann vor 1933 nicht einmal die Vokabel völkischer Geist 30. Allzuleicht mißzuverstehender Hartmann! Aber vielleicht war dem von Konzentration auf seine nächtelange Schreibarbeit, begleitet von Arbeit an seinem eigenen Teleskop, aufgesogenen Hartmann auch sein eigenes Verstanden- und Mißverstandenwerden gleichgültig. Er war das Gegenteil eines außengeleiteten Menschen (David Riesmann). Er hat sich und seine Bedeutung wohl nie überschätzt und im Zentrum der Welt gesehen: auch hier ein Sonderling in der Geschichte der großen Philosophen.
Für Hartmann, der die Fortschritte der Wissenschaft, z.B. der Astronomie, als Fortschritte der Anschauung der Welt sah, war da eine Aporie: Geistiges Sein ist unanschaulich. Darum wohl ist Hartmanns Buch das fragwürdigste Beispiel seiner sonst schwerlich anzweifelbaren Methodik nüchtern wissenschaftlicher Phänomenanalyse. Seine Geschichtsphilosophie ist in heutiger Sicht geschichtlich widerlegt. Bei Hegel und Hartmann hat nach der Logik des objektiven Geistes Macht Vorrang vor Recht gegenüber den von ihr zermalmten Individuen. Diese Rechtfertigung der Geschichtemachenden ist faschistisch („Der Führer hat immer recht“). Nach Hegel und Hartmann wären sie nicht Führer, wenn der objektive Geist sie dazu nicht gemacht hätte, nicht insgeheim schon auf ihrer Seite stünde. Sah Hartmann diese Konsequenz der angeblichen Vernunft in der Geschichte nicht, auch wenn bei ihm die Vernunft von oben durch den irgendwo in der Mitte schwebenden, verschwommenen Gemeingeist ersetzt ist?
Der hegelisch geprägte Antihegelianer war kein guter Kartograph des Kontinents der objektiv geistigen Wirklichkeit, wenn er irreführende Namen eintrug: Zeitgeist und völkischer Geist, der objektive Geist als Lehrmeister des Ethos (nach Hegels allgemeiner Sittlichkeit!). Voller gefährlichster politischer Konsequenz war die Überhöhung und Rechtfertigung von Richtung und Tendenz im Gemeingeist einer bestimmten Geschichtsepoche und in einer bestimmten Gemeinschaft (Volksgemeinschaft!). Eben hier sah Hartmann „Leben, Macht und Realität des objektive Geistes“, ja, dessen Übermacht über das menschliche Individuum. Aber sah er die Konsequenz dieser Perspektive: die Unfehlbarkeitserklärung der Geschichte (Macht = Recht)?
Aber diese Geschichtsvergottung und diese Unterwerfungserklärung unter Instanzen des objektiven Geistes ist nicht Hartmanns letztes Wort. Nicht veröffentlichte authentische Äußerungen Hartmanns werden dies am Schluß belegen . Eine ausgewogene Kritik wird auch zeigen, daß der scheinbar so statische Denker in lebensgeschichtlicher Bewegung war.
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Fortsetzung: Nähe zu und Abkehr von Hegel
Ob es Geist als Wirklichkeitsschicht gibt, erschien als entscheidende Frage, letztlich im Hinblick auf Hartmanns latente Anthropologie, auf seine Persönlichkeitslehre, auf seine nicht materialistische Geschichtskonzeption. Jetzt sei die Leitfrage: inwieweit kam mit objektivem Geist doch wieder metaphysischer Schwindel in die Realontologie und nüchterne Geschichtskonzeption. In welchen Stadien hat Hartmann diese Gefahr durchschaut und vermieden?
Manches über Richtung und Tendenz des Gemeingeistes im „Problem…“ von 1933 vergröbert hegelsche Partitur zu Marschmusik der „Bewegung“.
„Der geschichtlich objektive Geist ist es, der Macht und Recht in sich vereinigt…Recht und Macht haben dieselbe Quelle….Die Macht der Tendenz liegt einfach in ihrer Gemeinsamkeit selbst. Eine andere primäre Macht als sie gibt es in der Sphäre von Recht und Staat nicht. Der Wille des Einzelnen…kann aus der gemeinsamen Tendenz herausfallen. Er ist dann der isolierte und durch die Isolation ohnmächtige Wille“.31
Schonungslos zu Ende gedacht spricht sich dies für einen wertmaßstablosen Relativismus der Gemeinsamkeit aus. Die skeptische Frage, ob das Gemeinsame der Grundeinstellung nicht erzwungen und gefälscht werden könne, z.B. durch „Führer“-Entscheidungen, kam nicht auf.
„Das Wertgefühl einer bestimmten geschichtlichen Zeit hat sein Eigengesetz…Dagegen kann der Einzelne mit seiner geschauten Wahrheit nicht aufkommen. Er ist machtlos der Übermacht ausgeliefert, ein Verkannter, vielleicht ein Märtyrer seiner Idee. Das Gesetz der Wahrheit, das er vielleicht für sich hat, hilft ihm nicht. Es ist nicht das Gesetz des geschichtlichen Geistes. Der Geist hat sein Eigengesetz, seinen eigenen Rhythmus des Wandels. „Seine“ Wahrheit kann nur werden, wozu er reif und geöffnet ist. Und das Gewicht seiner Stellungnahme ist keine rein passive Macht, sondern eine solche mit eigener Bewegungstendenz“.32
Hartmann hätte in seiner Kategorialanalyse diese unklaren Kategorien analysieren müssen. Kommt hier wiederum teleologisches Denken zu Wort: die Teleologie des Sichdurchsetzens von Volks- und Zeitgeist gegen individuelle Abweichungen?
Einerseits ließ Hartmann eine Anzweiflung der erfahrbaren und ontologisch fundierten Macht des menschlichen Geistes (kraft spezifischer Akte) auch in Disputationen nie zu. Andererseits war ihm voll bewußt, er sei (schon 1933-45!) dem Zeitgeist nicht gemäß. Das ist die Dialektik, Paradoxie, wenn man so will, Tragik der geschichtlichen Stellung des Hartmann-buches und der Bewußtseinslage seines Verfassers. Aber man denkt wenig daran, daß die letztere in Bewegung war.
Die Frage nach dem Sinn der Geschichte kam im „Zirkel“ nicht vor. Anderswo hat Hartmann sie mit der ihm eigenen Bedächtigkeit mit seinem Streben nach der Mesotês deutlich restringiert auf die Frage nach dem bloßen Einschlag des Planens in der Weltgeschichte. Eindeutig war das menschliche Planen gemeint , nicht ein erspekuliertes oder theologisie-rendes übermenschliches, so etwas wie die Vorsehung in der Geschichte.
Wenn Hartmann Hegel als den ihm vorangegangenen Kolumbus des Kontinents des objektiven Geistigen gesehen haben sollte: warum sah er dann nicht dessen Kolumbus-irrtümer? „ Die Individuen hindern nicht, daß geschieht, was geschehen mußte“ 33. Sonderbar, wo überall hegelsche Gedanken von terribler Simplizität wieder durchschlagen. „Keine Macht kann sich gegen den Volksgeist …geltend machen, wenn er nicht in ihm leblos, erstorben ist 34. Das ist die einzige Chance, die Hegel und Hartmann dem revolutionären Geist einräumen.
Aber die Verklärung des Geschehenen, wonach das geschichtlich Gewordene das wirklich Berechtigte sei, war dennoch nicht die Sicht des nüchternen Wirklichkeitsphilosophen Hartmann.
Hatte das Wunschdenken und Sich-Glorifizieren des Geschichte machenden Hitler eine unterirdische Beziehung zu dem gefährlichen Hegel, der alles in der Weltgeschichte Geschehene bejahte? Jedenfalls bestand keine wie immer beschaffene Beziehung zwischen dem Führerglauben und dem Autoritätsanspruch des objektiven Geistes bei Hartmann (s.ob.: der objektive Geist als Lehrmeister des menschlichen Ethos). Nur kam in beiden, sonst nicht vergleichbaren Konzeptionen, die Persönlichkeit schlecht weg.
Die Rechtfertigung alles geschichtlich Wirklichen durch die Logik der Weltgeschichte sagte Hegel lapidar und grandios zweideutig aus: Es geschieht, was „an der Zeit ist“ 35. So anti-hartmannisch und antiontologisch wie überhaupt nur möglich ist der eindeutigere Hegelsatz: „daß die Weltgeschichte nichts anderes darstellt als den Plan der Vorsehung. Gott regiert die Welt“ 36 . Hartmann interessierte sich nur für die menschliche Vorsehung, wie diese in engen Grenzen möglich und auf Zeit zu verwirklichen ist: bei den Initiatoren, den Institutionsgründern, den Planern, deren Planungen dann aber immer wieder durchkreuzt und in andere Richtung abgelenkt werden. Dies wird mit der Formel: „Einschlag des Planens in der Geschichte“ ausgesagt.
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Kurze Zusammenfassung
Im Ganzen von Hartmanns Philosophie gesehen: Zu einem Traum von der Allmacht übermenschlicher geistiger Ziele und Zwecke hat er sich nicht verführen lassen. Aber seine Geschichtskonzeption leidet daran, daß er den Geist als soziokulturelle Wirklichkeitsschicht nicht genügend anthropologisch real und geschichtlich sah. Der Erkenntnisfortschritt stellt sich dar am Gegensatz zu Hegels verschwommenen Volksgeistern und Zeitgeistern und Hartmanns seiner sonstigen Wissenschaftlichkeit unwürdigen Gummiworten: Gemeingeist, Kollektivum, Gemeinschaft… 37. Hartmanns geisteswissenschaftliche gymnasiale Wirklichkeiten des gehobenen Geisteslebens in unserer gegenwärtigen partikulären Kultur bleiben weit ab vom Intersubjektiven-Nichtbiologischen als dem anthropologischen Wirklichkeitscharakter des Geschichtlichen. Es ist die Schicht, in welcher der Realprozeß der primordialen Menschwerdung und der späteren Personwerdung, der Gesellschafts- und der Kulturentwicklung spielen .
Dieser Realprozeß läuft nicht über metaphysische Zwischeninstanzen, sondern über anthropologische: über die evolutionäre Ausdifferenzierung von Gegenseitigkeits- und Verständigungssystemen. Diese fungieren als Experimente und Einübungen auf Zeit von Sozialisierung bewußter Iche. Für all dies ist ein mythischer Name: Geist. Kultur, ursprünglich ein Wertbegriff, wurde in der empirischen Fachsprache dynamisiert zum Begriff acculteration.
Was wir Geschichte nennen, ist die Anreicherung dieses Prozesses um ungeheure Dimen-sionen des Nicht-Geistigen und des individuellen Kampfes um das Verstehen der Symbole. Auch Völker, Kulturen, paths of life, kinds of belief sind Individuen, aber ohne Individual-bewußtsein.
Hier muß der Unterschied zwischen Evolution= dynamische Richtungsstruktur, die empirisch beweisbar ist, und Teleologie erkannt werde, die nur metaphysisches Trostbedürfnis und Wunschdenken ohne Erkenntnissinn ist. Wir haben keine Erfahrung von einem durch den Weltgeschichtsstrom durchlaufenden Richtungssinn. Das spricht für die Notwendigkeit der Kategorialanalyse.
Hartmann gehörte noch zu der Reihe der Klassiker, die sich mehr für die Realprozesse der außermenschlichen Natur und deren Kategorien interessierten. So ist seine Natur-wissenschaftsgläubigkeit kein Hobby. Aber insofern schwebt auch Hartmanns objektiver Geist heimatlos über metaphysischem und empirischem festen Land .
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Falsche Anthropologie im Unterschied zu anthropologischer Unabgeschlossenheit
Hartmann verklammert Geschichts- und Geistphilosophie unausgesprochen durch eine falsche Anthropologie 38. Auf dieser Verklammerung liegt die ungeheure Hypothek der langlebigsten abendländischen Denktradition einer Anthropologie von oben: der Mensch als geistiges Wesen. Hartmann hat Einiges, aber nicht Genügendes getan, um diese Hypothek abzuarbeiten. Daß die wahre Verklammerung eine real-anthropologische sein müßte, weil die auf das Nicht-Naturale gehenden Wissenschaften im Menschen zusammenhängen, läßt sich nur aus einem am Rande des Systemdenkens über geistiges Sein versteckten Kapitel herausinterpretieren 39. So können hier nur unsystematische Nachträge und Einzelglossen folgen.
In der Philosophischen Anthropologie ist nicht der Allgemeinbegriff <Mensch> zu erreichen. Einer Randbemerkung Hartmanns folgend ist mit dem objektiv Geistigen das spezifisch Menschliche am Mensch zu suchen. „Wir definieren…den Menschen durch unser fragmenta-risches Wissen vom Geist …Nicht vom Begriff des Menschen (den wir nicht haben), sondern vom Menschen selbst lesen wir die Merkmale des Geistes ab“40.
Hartmann hat also mit der Vielfalt der Zugänge, welche die Kapitelüberschriften seiner so breit geratenen Untersuchungen mit oft altmodischen Titeln ankündigen, nach einem gezielt. Aber Hartmann maßte sich am wenigsten an, der Ontologe oder Summist des être ondoyant et divers (Montaigne) zu sein oder aber das begrenzte Wissen um den ontischen Mikrokosmos zu erheben .
Wo bleibt aber dann der Mensch in dieser neuen Ontologie? In der alten war da Gott… Eben dieses Negativum ist in positivem Verstand zu lesen. Unser Wissen vom Menschen, von uns selbst, erreicht nicht ein Vollständiges, ein Seiendes (unter anderen Seienden).
Sehr zum Nachteil erweckt das Inhaltsverzeichnis des „Problems…“ den falschen Eindruck, ein Ganzes zu bieten. Der Titel ist geglückter. Wir stehen auch heute auf jenen Wirklichkeits-gebieten noch lange nicht da wie ein Newton des Grashalms (Kant). Es wird nie eine abgeschlossene newtonsche Mechanik der menschlichen Culture geben, sie wird immer Problem bleiben, weil sie mit dem Menschen zusammenhängt. Dieser kann, wie sein Geist und seine Geschichte, nie fertig sein. Das Problem des geistigen, kulturellen Seins muß in Wirklichkeit, nicht als eines der bloß theoretischen Untersuchung, sein Problem sein, sonst wäre seine Geschichte zu Ende, oder wäre eine unwirkliche geworden.
Könnte man das Zweideutige an Hartmanns Geist- und Geschichtsphilosophie nicht ins Positive wenden aus der besonderen Erkenntnislage der Anthropologie heraus: Le questioneur, la question et le questionné ne font qu‘ un41. Hartmann wollte nicht diese ambiguité d’une discipline: der anthropologie historique et structurale. Aber der Mensch existiert die Zweideutigkeit. Hartmann ist dieser mit seiner Fundierung auf den objektiven Geist nicht entkommen. Der Mensch kann sich nicht feststellen: auch nicht vom objektiven Geist her. So viel muß man hineinlegen in das Problem des geistigen Seins als nicht erreichte Ontik des Menschen.
Jedenfalls nicht zu tadeln, sondern zu loben ist Hartmann dafür, daß er in Wahrheit Unvoll-ständiges gibt, nämlich ein <Problem>, nicht ein System. Darin ist er wissenschaftlich geblieben und ein Vorbahner heutiger Kultur- Anthropologie aus Empirie . Daß er keine Ontologie des Menschen schrieb, war Problemdenken und färbt seine ganze Ontologie-Kosmologie .
Hartmann ist nicht mehr Hegels luftiger Himmelfahrt und illusionärem Erreichen der Vollendung-im-Telos gefolgt, die erfahrbaren Phänomene des Geistigen transzendierend, hinan zum metaphysikträchtigen reinen Geist und spekulativen Geistsystem, das wiederum letztlich einen Geist-Gott beweisen sollte, in einer früheren Zeit.
In summa: gerade das Fehlen einer systematischen Anthropologie ist das Anthropologische, es ist, bezogen auf das wirkliche, nicht ertheoretisierte Menschsein, die unverfälschte Einstel-lung, es ist der spezifische Wirklichkeitsbezug zum spezifisch Menschlichen. So paßt dieser in die gesamte (natürliche) Wirklichkeitsbezogenheit dieser Philosophie und verrät deren Pointe.
10.4.2013
Die Seiten 101 – 134 des Manuskripts sind posthum veröffentlicht unter dem Titel:
Dokumentationen und Notationen zum späten Hartmann aus der Sicht von heute
von Hermann Wein (München)
in: Nicolai Hartmann 1882 -1982,
herausgegeben von Alois Joh. Buch, Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn 1982
Von dem bereits veröffentlichten Text gebe ich nur ein möglichst knapp gefaßtes Referat.
Wein thematisiert zunächst den Begriff <natürliche Einstellung> im Unterschied zur Reflek-tiertheit als Verbiegung der intentio recta zur intentio obliqua, wie es die vernünftelnden Systemkonstrukteure machen, die von einem fingierten Archimedischen Punkt des Theoretisierens ausgehen und auf fiktive philosophische Gebäude hinauskommen.
Demgegenüber bedeutet die natürliche Einstellung, in der vollen Wirklichkeit zu stehen und zu leben, nicht nur naturalen Gegenständen zu begegnen, sondern menschengemachten Strukturen (wie auch den Institutionen, die fördern und hemmen und allerdings im Buch von 1933 kaum vorkommen), also die gesellschaftlich politische Wirklichkeit ontologisch genauso zu erfassen wie die übrigen Schichten des Aufbaus der realen Welt. Damit ist teleologischem Denken eine Absage erteilt, d.h. es gibt keine Bezogenheit des Geistes als eines himmlisch Guten und Wahren, das das Geschichtsgeschehen über die Köpfe der Menschen hinweg steuert.
Im Unterschied zu dem über weite Strecken beschwichtigend und konfliktfrei wirkenden Buch nahm Hartmann im Seminar und sonst gesprächsweise mehr Partei für die Individuen gegen die „furchtbare Macht“ des objektiven Geistes und hob als Negativum das <Trägheits-gesetz des objektiven Geist> hervor. Aber vermöge geistiger Aktvollzüge hat der Mensch in engen Grenzen die Macht, in die Natur- und die Geschichtswirklichkeit auf Zeit einzugreifen.
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1938 hieß das Thema im Seminar <Philosophische Anthropologie>, Hartmann sprach in seinem Referat über die begrenzte Möglichkeit der Führung des Menschen durch den Geist, über das, was nunmehr der zirkuläre Bedingungszusammenhang zwischen dem Geprägt-werden der individuellen Bewußtseins- und Verhaltenswelten durch überindividuelle, geistige Muster, durch deren Trägheit, und dem Um- und Neugeprägtwerden durch geistige Akte der Individuen heißt. Unglücklich findet Wein die Rede von der „Machtfülle des (objektiven) Geistes“, weil sie noch zu nah an Hegel ist und
nicht die Überwältigung, sondern nur die Indienststellung der nichtgeistigen Schichten bedeuten kann,
die „Struktur des Zusammenspiels“ verschleiert, auf die es zwischen schöpferischem personalem Geist und dem zur Beharrung tendierenden Objektiven ankommt.
Der These von der Ohnmacht der Individuen vor der Geschichte steht entgegen: Es gibt die Schaffung
von Zielen, ja sogar von Traditionen durch die Individuen,
von Tendenzen und Richtungen, von wie eingeboren empfundenen kollektiven Einstellungen. Einzelne eigenwillige Individuen kreieren Auffassungen, die selbst-verständlich für viele werden. Hartmann hob Entstehung und Automatismus von Gewohnheiten hervor, wie sie die Pragmatisten William James und John Dewey geschildert haben.
Vielleicht, das war Hartmanns Auffassung, habe der Mensch die Chance, auch in das Geschichtliche planvoll einzugreifen und es in Grenzen neu gestalten zu können. Aber dazu wäre ein bisher nicht erreichtes neues Wissen notwendig. Bisher hat es nur partiell gelungene Unternehmungen und viele gescheiterte Versuche gegeben.
Die „Machtfülle des Geistes“ ist etwas Ambivalentes und Relatives. In menschlichen Gesellschaften werden die individuellen Bewußtseinswelten von diesen oder jenen Formen des sich wandelnden übersubjektiven Geistes, von je zentralen Wertungs- und Anschauungs-mustern beherrscht. Entgegen Hegels Vernunft in der Geschichte gibt es da keine metaphy-sische Evolution von den Orientalen über die Griechen zu den germanisch-christlichen Völkern Europas, sondern den Kultur-Relativismus als den Formen-Kosmos in den Gesellschaften rund um den Erdball. Nun die Hauptsache dieser anthropologischen Geschichtskonzeption: Die Beeinflussung des Geschehens geschieht durch wertbewußte Zwecksetzung und Zwecktätigkeit, ferner durch die begrenzte Gabe der Voraussicht, die ein Einkalkulieren ermöglicht. Das menschliche Wertbewußtsein ist voller Vielfalt. Neue Wertbereiche lösen alte ab, die dann zu Unwerten umschlagen können. Viele Werte sind partikulär und zeitgebunden. So hat die wertbewußte Zwecksetzung Auswahlcharakter und erweist sich gegenüber dem Nichtgewählten ungerecht.
Der Spontaneität subjektiv-geistiger Akte steht aber das Trägheitsmoment des objektiven Geistes entgegen, das überwunden werden muß, wenn entgegen der Tradition etwas Neues gesetzt werden soll. Das Hemmende liegt nicht in der Schwere der Natur, wie man immer gemeint hat, sondern im objektiv Geistigen, das ja kein Bewußtsein hat. Alle Initiative zu geistig Neuem geht vom menschlichen Einzelbewußtsein aus, das Kollektiv hat kein Bewußtsein, nur das Ich.
Neben der Beharrungstendenz des objektiven Geistes ist als dessen negative Seite die Verführungstendenz zu sehen, die sich auf die Individuen auswirkt. Im Namen des Wohl des Volkes, um der Ehre Gottes, der Verteidigung eines Glaubens, im Namen der Vernunft, der Werte, der humane Ordnung geschah und geschieht das Widersinnige und Selbstzerstö-rerische der Menschengeschichte. Ein in Wahrheit Begrenztes versuchte, sich als Vollstän-diges, Absolutes zu behaupten.
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Unabhängig und diesseits vom objektiven Geist und seinen Großgebilden und Institutionen gibt es aber die Möglichkeit einer eigenen Welt für den Menschen als Persönlichkeit, in der diese ihre Ordnung inmitten der Ordnungen behauptet und auch auf den objektiven Geist in engen Grenzen verändernd einwirken kann. Persönlichkeit meint das Einzigartige, Spontane, gerade auch in den „schwachen, stillen, unaufdringlichen Menschen“ – weitab von Hegels welthistorischen Individuen. „Zweckbewußtes, wertgeleitetes Handeln geistig kulturell entwickelter Persönlichkeiten ‚verändert die Welt‘, wie vielfach auch dies an Unveränder-barem Halt machen muß“.
Was das personale Bewußtsein als ein Mehr gegenüber dem bewußtseinslosen objektiven Geist hat, nämlich Bewußtsein mit eigener Aktionsfähigkeit, reicht für die Persönlichkeit nicht aus, um sie zur bewußten Gestaltungskraft des Geschichtsprozesses zu machen. Wein fragt, warum Hartmann nicht wenigstens an die Teilnahme am Politischen, am öffentlichen Leben und damit an der geschichtlichen Entwicklung dachte. Jedoch trägt der personale Geist die Verantwortung für künftige Geschlechter, welche die Früchte seines Tuns ernten werden. Hier kommt Nietzsches Wert der Fernstenliebe ins Spiel.
Mit der Herausstellung der Persönlichkeit erst wird in Hartmanns Philosophie das Subjek-tive dem Objektiven ebenbürtig, wie es sich ontologisch gehört:
„Durch alle Schichten der Persönlichkeit erstreckt sich das persönlich Individuelle…auch im täglichen Leben der Völker (werden) die führenden Ideen fast immer nur in Form der Persönlichkeit konkret…,der Mensch lebt…auf erschaute Gestalten, persönliche Vorbilder hin…Der Wirkung des Individuums auf die Geschichte sind äußerst enge Grenzen gesetzt, der Wirkung des Individuums als entwickelter Persönlichkeit im Interpersonalen und im Geschehen von Mensch zu Mensch sind ebenfalls anthropologische, aber nicht im konkreten Fall vorher bestimmte Grenzen gesetzt. Diese synthetische Einheit von Macht und Ohnmacht ist das menschliche, geschichtlich gesellschaftliche Sein“. 42
In einer Zwischenbetrachtung wendet sich Wein gegen die überhand nehmenden Pseudo-Anthropologien, die den Mensch metaphysisch oder antimetaphysisch fixieren und sein „Wesen“ im Sein fest orten wollen, im Außerweltlichen oder im biologischen oder im ökonomischen Progress. Wirklichkeitsnäher dagegen: Der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier (Nietzsche ), erst sich machend. Der Mensch verleiht nur Menschlichem Sinn. Sodann zitiert Wein die zentrale Stelle aus der posthum veröffentlichten Ästhetik43: Es ist umgekehrt als die Metaphysiker es immer gedacht haben: gerade eine sinnlose Welt ist für… den Menschen die einzig sinnvolle Welt, in einer schon ohne ihn sinnerfüllten Welt wäre er mit den Gaben der Sinnverleihung überflüssig. Diese Sinngebung durch die geistigen Akte: Selbstbestimmung, Entscheidung (Freiheit ), die Fähigkeit vorzudenken und Zwecke zu setzen, Wertbewußtsein, sowie Anteilnahme, Verstehen und Auswertung des Begegnenden ändert die Weltstruktur nicht. Sie zieht die Grenze zwischen Ontologie und Anthropologie, bedeutet Autonomie in der Abhängigkeit und ermöglicht ein Zusammenspiel zwischen Menschen zu neuartig sinnhaftem Miteinander.
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Ein Jahr vor Hartmanns Tod kam es am 4.8.1949 zu seinem einzigen Radiogespräch mit Hermann Wein, das dieser im Nachtstudio des Bayrischen Rundfunks arrangiert hatte. Was bleibt von der Philosophie , die in der längsten Tradition nach dem Ursprung, dem Logos, dem Geist, dem Telos fragte und Geist nun nur noch als objektiver Geist der überindivi-duellen Muster und personaler Geist der geistigen Akte der Persönlichkeiten figuriere?
Hartmann: Auch wenn wir nicht auf die letzten geistigen Gründe gerichtet sind, liegen die philosophischen Fragen mitten auf dem Wege, im Leben, beim Menschen, bei der Natur, bei der Geschichte. Wir dürfen nur nicht ein frei konstruiertes Weltbild zugrunde legen, als wüßten wir schon vor aller Untersuchung, wie die Welt beschaffen ist. Der lange Weg der Erkenntnissuche habe zwei Abschnitte: Der eine betrifft unsere Stellung in der Natur, im Kosmos, der zweite die Welt des geschichtlichen kulturellen Lebens. Der erste scheint weit einfacher und günstiger für uns zu sein, weil die Natur doch von uns hingenommen werden muß, wie sie ist, die Menschenwelt aber dauernd von uns mitgestaltet wird. Es sei nicht widersinnig, daß der Mensch die Wirklichkeitswelt im ganzen in Grenzen umformen oder überformen kann. Die geschichtliche und kulturelle Welt, die vom Menschen stammt, kann er nicht in den Griff bekommen. Denn im Kosmos ist kein übermenschliches geistiges Wesen, das Wege vorschreibt. Die Naturkraft ist neutral. Wir können ihre Gesetze nicht ändern, aber sie lassen sich lenken und als Mittel für unsere Zwecke benutzen. Dagegen gehen die Aktivitäten der Menschen nicht in eine Richtung, denn jeder hat seinen Eigenwillen. Alle tendieren auseinander und gegeneinander. Das Recht, die Moral, der Staat versuchen sie einig zu machen, aber die Aufgabe, die divergenten Willen zur Einheit zu bringen, ist eine übermenschliche. Wein wandte ein, die Integrationskraft und Macht der überindividuellen Prägungen erweise sich doch in den Weltreligionen und Rechtsordnungen.
Aber Hartmann relativierte im folgenden Gesprächsteil die Macht des objektiven Geistes in mehrerlei Hinsicht: Erstaunlich sei doch, daß Völker nach wie vor sich raufen. Und wie viel Widerstand hat ein großer Staatsmann zu überwinden, der für ein gerechtes Zusammenleben der Völker arbeitet. Im Unterschied zum Buch von 1933 sieht Hartmann jetzt die Einhellig-keit des objektiven Geistes immer wieder am Streit der subjektiven Geister zerbrechen. Die Autonomie des individuellen Bewußtseinslebens straft die Autonomie des objektiven Geistes Lügen. Außerdem macht das Fehlen der Bewußtseinsinstanz und –kontrolle den überpersön-lichen Geist zum radikal verantwortungslosen. Damit war die Gegenposition zu Hegels Unfehlbarkeitserklärung der Geschichte erreicht.
Sollte nun, so fragte Wein, das entgegengesetzte Extrem gelten, der Geschichtspessimismus; kann der Menschengeist niemals den ungeheueren Widersinn von Selbstzerstückelung und Umsonst überwinden? Hartmann, der stets lehrte, nicht von den Extremen her zu denken, verwies auf den noch jungen Geschichtsprozeß, gemessen am Alter des Menschenge-schlechts. Die 5 -6 tausend Jahre, auf die wir zurückschauen, seien vielleicht nur ein Anfang oder eine Vorstufe. Vor allem: keine Macht der Welt kann uns der Verantwortung entheben, die wir für die künftigen Geschlechter tragen.
Hierzu hob Wein zweierlei hervor:
Mit Geschichtsprozeß meinte Hartmann die gesamte menschliche Evolution,
ist an Karl Marx zu denken, der von der bisherigen Vorgeschichte sprach und als Geschichte die in der Zukunft endlich zu erreichende Humanisierung von Geschichte und Natur als eigentliche bewußte Menschwerdung verstand 44.
Die Natur ist nicht Gegenspieler des Menschen und der menschlichen Zwecktätigkeit. Sie zerstört zwar vieles. Aber sie hat „keine Meinung gegen uns“ (Nietzsche). Denn sie verfolgt keine Zwecke. Der Mensch ist Gegenspieler des Menschen. Das kommt von der Individuation her, mit deren Ausmaß der Mensch eine Sonderstellung im Wirklichkeitskosmos einnimmt.
Es gibt mächtige die Individuation übergreifende und eindämmende überindividuelle kulturelle Muster individuellen Verhaltens, in Hartmanns Sprache : Muster = objektiv geistige Gehalte. Sie stehen in realer Spannung zu individueller Willensbildung, Erkenntnis, Aktivität und Wertfühlung. Harmonie und das friedliche Verhältnis: Personaler, objektiver und objekti-vierter Geist ist ein Traum voller Unwirklichkeit, bei Hartmann vielleicht eine Fortwirkung von Hegels Schlüsselwort <Versöhnung> - des Endlichen mit dem Unendlichen in der Geschichte. Bei Hartmann aber gilt letztlich: der Mensch muß sich den Chancen des Spiels der Antagonismen anvertrauen, sonst bliebe er stehen und die menschliche Evolution schlüge um in ihr Gegenteil oder wäre zu Ende.
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Das Psychogramm des Gelehrten, Philosophen und Menschen Nicolai Hartmann war zentriert um mesotês, Bescheidenheit und Vertrauen gegenüber den Vertrauten. Das lehrte lange Erfahrung mit seiner Persönlichkeit und deren Ethos. Aber sein Geheimnis liegt vielleicht woanders: Hinter so viel Statik verborgen wirkte in diesem Philosophen gerade die Dynamik. Seine dicken Bücher haben nicht sehen lassen, daß sein Problemdenken das Systemdenken überwog. Hartmann, als ein anderer Anti-Hegelianer als die Neopositivisten und Analytiker, hielt in seiner <dehegelization> 45 an Hegels überindividuell-kulturellem Wirklichkeitsbezug fest, der aus der Systemkonstruktion herauszuschälen ist. Hartmanns Denkbewegung war, vom Verführerischen von Hegels unwirklichem Geist, seiner teleologischen Metaphysik- von- oben loszukommen und das Gesamtwirkliche in natürlicher Einstellung wiederzugewinnen. Vielleicht ist dies die einzige Hoffnung, die noch für die philosophia bleibt, und gehört dies zur Hermeneutik dessen, worauf das Wort Problemdenken verweist. Eine seltsame Bemerkung Hartmanns: „Es hat bisher noch keine aufgeklärte Philosophie gegeben…“ hat er nie näher erläutert. Diese bezog sich nicht auf die einstige Aufklärungszeit, sondern richtete sich auf die Erweiterung des Aufklärungsbewußtseins, vielleicht auf eine Ideologie im positiven Verstande: eine aufklärerische in neuem Sinn.
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Hartmann öffnet seine Ontologie, den Schichtenbau, zuletzt in Richtung der <menschlichen Chance>, einer Anthropologie, die keine Lehre ist. In dieser Sicht weist <Geist>des Menschen nicht metaphysisch auf ein Jenseits des Seins. Sondern die geistigen Akte, mit denen Hartmann das Ethos der Persönlichkeit konkretisiert, sind tätige Transzendenz zur Zukunft, die ganz im Hiesigen liegt.
Für kritische Ontologie sind die niederen Schichten die stärkeren. Damit ist anthropologisch vereinbar, daß der Mensch über eine spezifische Stärke in der realen Welt verfügt. Sie stammt aus dem zur höchsten Schicht gehörigen Gefüge geistiger Akte. Dieses hat die Macht, vieles in den niederen Schichten nach menschlichen Zwecksetzungen zu lenken, ohne daß die kategorialen Gesetze der tragenden Schichten durchbrochen werden. Ebensowenig hat der Mensch die Chance, die höchste Schicht, die Realwelt des objektiven Geistes, zu beherrschen. Er scheitert immer wieder bei dem Versuch, den geschichtlichen und kulturellen Prozeß zu lenken. Aber er hat die Chance, im Interpersonalen und in engem Raum und Zeitraum Einmaliges-Erstmaliges zu verwirklichen. In menschlicher Sicht ist Hartmanns Formel: <Autonomie in der Abhängigkeit> kein Widerspruch.
Macht und Ohnmacht läßt sich philosophierend, konstruierend, ideologisierend im Systemdenken zum verführerischen Extrem übertreiben. Dagegen steht der Kernsatz von Hartmanns Ethos: „Das Verführerische darf als verdächtig gelten“.
Problemdenken wird der condition humaine gerecht. Es bleibt bei der ontologischen und anthropologischen Wahrheit. Sie ist das Gegenteil einer Summa nach Art der alten Ontologie als manifester Metaphysik. Diese war unbescheiden. In die Reihe der selbstkritisch Sichbescheidenden von Kant bis Wittgenstein gehört Hartmann – bei allem und gerade mit allem Gescheiterten seiner Neuen Ontologie. 16.4.2013
Hermann Wein, 1912 geboren , der letzte Assistent des überraschend 1950 in Göttingen verstorbenen Nicolai Hartmann , ließ sich als apl. Philosophieprofessor in Göttingen anfangs der 70 er Jahre pensionieren und lebte abwechselnd in seiner Heimatstadt München und in der legendären Althöllmühle bei Habach im Kreise Murnau und, nachdem diese durch Brandstiftung vernichtet wurde, in Aidling.
Über seine gesundheitlichen Probleme, einer unerkannten Diabetes, die 1979 groteskerweise zu einer dreimonatigen Einlieferung in das berüchtigte Psychiatrische Bezirkskrankenhaus Haar bei München führte, veröffentlichte er 1981 unter dem Pseudonym Hermann K.A. Döll: „Philosoph in Haar – Tagebuch über mein Viertelahr in einem Irrenhaus“ einen schonungslosen, ungeschönten Bericht.
Nach Haar wieder vollständig genesen, arbeitete er an einem Manuskript über „Metaphysik-Marxismus“ und, nach Aufforderung durch Josef Stallmach um Mitwirkung an der Gedenkschrift: „Nicolai Hartmann 1882 -1982“ an dem Manuskript, das überwiegend Gegenstand meines vorliegenden Referates ist.
Nach seinem überraschenden Tod im November 1981 vertraute mir seine Witwe Doris Wein die beiden Manuskripte an.
Beide waren zwar abgeschlossene Texte, hätten aber nach Weins Absicht eine nochmalige Überarbeitung erfahren müssen.. Nachdem ich diese vorgenommen hatte und den Nicolai Hartmann –Text in meiner Fassung einigen Philosophieprofessoren in der Annahme, sie seinen daran interessiert, zugesandt habe, bin ich schmählich an deren Uninteressiertheit gescheitert.
1 Im folgenden zitiert nach der 2. Auflage 1949 als P.
2 wie Rilke dieses Wort im Hulewicz-Brief vom 13.11.1925 gebraucht, Rilke Briefe, Insel Verlag 1980, Nr. 410
3 also Hermann Wein (DM)
4 Mündlich allerdings das Erstaunliche: Chr. Wolffs Principium rationis sufficientis habe Hartmanns umstrittene Gleichsetzung von Realmöglichem und Realwirklichem angeregt.
5 Kantstudien 1933, 406 ff, jetzt in : Gesammelte Schriften IX, (Suhrkamp) 2003, 73, 82
6 Ruth Benedicts<Pattern of culture> beginnt mit: The Science of Custom. Habits und customs waren im englischen Denken früh beachtete Grundkategorien (vgl. David Hume). Auf dem Kontinent begegnete ihnen eine gewisse Geringschätzung, verglichen mit dem <Geistigen> im alten Sinne.
7 Von Hartmann erst spät in positivem Sinne verwendet, vgl. Naturphilosophie und Anthropologie, 1944.
8 P 191
9 P 255, im Kap. Der Spielraum der Persönlichkeit: objektiver Geist ist nicht die Zwangsjacke…, nicht Uniformierung der Individuen.
10 Systematische Selbstdarstellung, 1933, jetzt; Kleinere Schriften I, 1955, diese im Folgenden zit: KlSchr.
11 Das einzige Exemplar seines Naturphilosophie-Manuskripts gab er einem ihm völlig unbekannten jungen Physiker aus Süddeutschland mit. – Die Unterlagen zum Logikkolleg wurden im Winter 1944 im Keller des Auswärtigen Amtes durch einen Bombenangriff zerstört, nachdem sie tags zuvor dorthin verbracht wurden.
12 „In den Geisteswissenschaften hat die reflektierte Einstellung (das ist die Überschätzung des Denkens des Denken) zum Relativismus geführt“, Neue Ontologie in Deutschland, Istambul 1946, 13= KlSchr. I, 51 ff.
13 Wie Fn 12: Für Takiyettin Mengüsoglu, Universität Istambul, geschrieben 1940, in: Felsefe Arkivi 1946.
14 Phänomenologie des Geistes (Verlag Meiner) 1952, 413.
15 Neue Ontologie in Deutschland (wie Fn 12, 13), KlSchr.I, S. 60 f.
16 KlSchr I, 89
17KlSchr. I, 52
18 KlSchr. I, 82
19 KlSchr. I, 83.
2020 P 110 f
21 KlSchr I, 60
22 KlSchr I, 60.
23 Thomas Mann dagegen: man müsse bei <Geschichte> immer an das Femininum und an das Neutrum
<Ge-schichte> denken.
24Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Verlag Meiner 1955, 71f.
25 In seinem Münchner Vortrag vom 26.4.1949: „Die Erkenntnis im Lichte der Ontologie“, in: KlSchr.I, 175: In noch an Aristoteles zurückgebundener Sprache: „der bewegliche Apparat der Erkenntniskategorien (paßt) sich inhaltlich dem Bestand der Seinskategorien (an)“; s. auch S. 162. – Zusammen mit „Naturphilosophie und Anthropologie“ von 1944 zeigt sich der anthropologische Einschlag in Hartmanns letztendlicher Ontologie.
26 Vorwort von 1932, P IV.
27 KlSchr.II,214 - 251
28 In der sich als empirische Social Science verstehenden Cultural Anthropology wiederentdeckt. In Deutschland dagegen mußte der Volksgeist noch einmal als Farce hochkommen im völkischen Geist, biologisch-rassisch und psychologisch-hysterisch gemimt und persifliert.
29 Seine Intervention auf dem Mainzer Philosophenkongress 1949. Zusatz des Herausgebers: Näheres zu Hartmanns Verhältnis zum Marxismus in der verdienstvollen Herausgabe der Erinnerungen von Wolfgang Harich durch Martin Morgenstern: Nicolai Hartmann , Leben, Werk, Wirkung, Würzburg 2000.
30 Hartmann verstand von Politik und ihrer Sprache so gut wie nichts. Seine politischen Informationen bezog er aus dem Kauf der „Nachtausgabe“ für die S-Bahnfahrt nach Neubabelsberg. Am Tag nach der Besetzung von Paris zeigte er aber (offenbar gegenüber Wein; D.M.) seine radikale Skepsis gegenüber der völkischen Idee.
31 P 276 f.
32 P 280
33 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, a.a.O., S.60.
34 Wie Fn 33 S.70.
35 Wie Fn 33, S. 90, exemplifiziert an Cäsar
36Wie Fn 33, S. 77
37 Toennies‘ Begriffsanalyse von Gemeinschaft und Gesellschaft hat Hartmann natürlich gekannt.
38 Die Kritik richtet sich zentral gegen P III Kap.28, S.272 ff: Der objektive Geist als Macht im Leben des Individuums, a)Widerstand des Zeitgeistes und Ohnmacht des Einzelnen; e) die Paradoxie im Recht der Revolution.
39 S. Fn 40
40P 55 f: Der anthropologische Geistbegriff. (Klammerzusatz von Wein ).
41 Jean Paul Sartre, Critique de la Raison Dialectique, Paris 1960, 107.
42 Das Ethos der Persönlichkeit (1949), KlSchr I, 311-318.
43Nicolai Hartmann, Ästhetik 1953, 2. Aufl. 1966, 408
44 Wolfgang Harig, Berliner Schüler von Hartmann und an der Ostberliner Humboldt Universität geblieben, machte Hartmann brieflich Aussicht, nach einer Schulung in Moskau Staatsphilosoph der DDR zu werden. Hartmann sagte zu Wein: wie sollte ich beim Materialismus mitmachen.
45 Morton White, The age of analysis, A Mentor Book, New York 1955, 1, 17.