Dieter Miosge
Radbruchs Widerruf
Gustav Radbruch (1878 – 1949), der neukantische Relativist, Rechtsphilosophieprofessor und zweimaliger sozialdemokratischer Reichsjustizminister vom 26.10.1921 – 22. 11.1922 und vom 13.8. –2.11.1923, hat 1945 in „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“ 1 und1946 in der Süddeutschen Juristenzeitung das getan, was nur wenige seines geistigen Ranges tun und was Philosophen adelt. Er hat widerrufen. Die Rechtswissenschaftler Hans Kelsen und Carl Schmitt, sowie Karl Larenz und andere, in deren Hörsälen wir in den 50er Jahren gesessen haben, haben das nicht getan.
Der juristische Positivismus = Relativismus Radbruchs war durch folgende prägnante Formulierungen gekennzeichnet, alle abgeleitet von der These, Sollenssätze seien nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig 2, und einem Hauptsatz des Neukantianismus: Aus Seinsfeststellungen können keine Sollenssätze abgeleitet werden:
Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll.
Wer Recht durchzusetzen vermag, beweist damit, daß er Recht zu setzen berufen ist.
Wir verachten den Pfarrer, der gegen seine Überzeugung predigt, aber wir ehren den Richter, der sich durch sein widerstrebendes Rechtsgefühl in seiner Gesetzestreue nicht beirren läßt. 3
Von Radbruch in Juristische Wochenschrift 1925, 1252 zusammengefaßt:
(die) Unmöglichkeit, das Rechtsideal festzustellen, fordert, daß jemand es festsetze, und zwar jemand, der auch über die Macht verfügt, es durchzusetzen.
Nach den schrecklichen Erfahrungen der menschenverachtenden und menschenvernichtenden Praktiken des Nationalsozialismus widerrief Radbruch:
Der Positivismus mit seiner Überzeugung, <Gesetz ist Gesetz> hat den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.
Die neue Grundeinsicht Radbruchs lautet:
Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive... Recht auch dann Vorrang hat, wenn es ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als <unrichtiges Gesetz> der Gerechtigkeit weichen muß. 4
Seit Rüthers bahnbrechendem Werk: Die unbegrenzte Auslegung (1. Auflage 1968, 6.Auf-lage 2005) und Everhardt Franssens, des späteren Präsidenten des Bundesverwaltungs-gerichts, bedeutendem Aufsatz in der Juristenzeitung 1969, 766 ff: Positivismus als juristische Strategie gilt Radbruchs These von der Wehrlosmachung durch Rechtspositivismus als irrig, ja als grandiose Geschichtsklitterung.
Indes geht es nicht an, die Radbruchsche These in Bausch und Bogen zu verwerfen. Es geht vielmehr um eine faire Interpretation.
Diese kann zu dem Ergebnis führen, daß das Wüten von Nazirichtern, die Gesetze mit der nationalsozialistischen Ideologie von reiner Rasse, Blut und Boden und Volksgemeinschaft aufgeladen haben, bis zu einem gewissen Grade von Radbruchs Wehrlosigkeitsthese mitge-sagt ist.
Die Richtergeneration von damals wurde erzogen in der Auffassung, Recht sei organisierte, durch Normen gesetzte, im großen und ganzen wirksame Machtordnung. Recht ist, was der jeweilige Machthaber als Recht setzt. Noch in der Reinen Rechtslehre von 1960 bestätigt Kelsen die Trennung von Recht und Moral: Jeder beliebige Inhalt der Norm könne Recht sein. Die Rechtsgeltung liege ausschließlich in ihrer Durchsetzbarkeit. Denn Werturteile seien, wie der Dualismus von Sein und Sollen statuiert, unbeweisbar. 5
Außerdem wurde die personale Lebenswirklichkeit, die heutzutage in ihrer Eigenbedeutung grundgesetzlich geschützt ist, von der Begriffsjurisprudenz nur unvollkommen erfaßt. Propagiert wurde der <Jurist als solcher>, der ethische, politische und volkswirtschaftliche Erwägungen außer Betracht zu lassen hatte, wie Windscheid, der damals berühmte Klassiker des Rechtspositivismus, 1884 sagte 6.
Das sind Faktoren, die eine Unrechtsrechtsprechung begünstigt haben. Aber diese Erklärung reicht nicht hin.
Zur Wehrlosigkeit als einem Negativum und Passivum kamen aktive Impulse hinzu.
Die Perversion der Rechtsordnung wurde vor allem mit anti-positivistischen Argumenten bewirkt, nämlich mit Elementen der Nazi-Ideologie, mit der die Verkündung einer neuen Rechtsidee mit sog. neuen Rechtsquellen einherging:
Führerwille
Parteiprogramm
Rasse
gesundes Volksempfinden
So wurden sogar positive Gesetze mit Unrechtsgehalt, wie die Rassengesetze, von manchen Richtern über ihren Reglungsgehalt hinaus noch verschärft.
Den besonderen psychologischen Antrieb, derartige Inhalte in die Rechtsprechung aufzu-nehmen, sehe ich - neben Ehrgeiz und Karrierestreben - in den beiden Hauptmerkmalen des Totalitären der Naziideologie:
dem Mitmachensollen zur Herbeiführung der von den Nazis erwünschten politischen und gesellschaftlichen Welt,( letztlich einer germanischen Europäisierung).
der Säuberung von, der Selektion und Liquidierung der Unerwünschten aufgrund der Freund/Feind- Doktrin. – (Ausnahmen bestätigten die Regel).
Den meisten ist heutzutage nicht bewußt, welche eminente Bedeutung im Denken der Menschen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Vorstellungen einer metaphysischen oder quasimetaphysischen Heilsgeschichte gespielt haben, als gebe es so etwas wie eine himmlische, jedenfalls überweltliche oder übermenschliche Lenkung der Geschichte, die ihre wohltätige menschenbezogene Wirksamkeit erweist, wenn man sich ihr nicht widersetzt, sondern fördernd mittut.
Dazu ein Beispiel: Der Rechtsphilosoph Erik Wolf in Freiburg, der damals noch im Banne Heideggers stand, erklärte 1933 seinem befreundeten Kollegen, dem Rechtsphilosophen Gerhart Husserl, (Sohn des Philosophen Edmund Husserl), der wegen jüdischer Herkunft gerade seinen Lehrstuhl in Kiel verloren hatte:
Es ist ja sehr bedauerlich, daß Sie jetzt in solche unangenehme Lage gekommen sind. Das ist aber ein von Gott geschicktes Martyrium, das Sie würdig tragen müssen und bei dem auch niemand Ihnen helfen darf.7.
Hitler hat auf dieser Klaviatur erfolgreich gespielt und sich immer als Werkzeug der Vorsehung bezeichnet. Hegel hätte widerrufen und erklärt, so habe er sich einen „Geschäfts-führer des Weltgeistes“ nicht vorgestellt. Aber auf ihn ging die Sache wirkmächtig zurück. Denn Hegel hat die These von der Weltgeschichte als der Verwirklichung des absoluten Geistes, -sein Name für Gott-, aufgebracht und damit ihren angeblich unfehlbaren Gang durch die Zeiten gerechtfertigt: Das Wirkliche sei vernünftig und das Vernünftige sei wirklich.
Die infame Konsequenz dieser Auffassung war die Forderung, einem „Schema Mensch“ gemäß zu sein. In Carl Schmitts totalitärem Denken war das die „Homogenität“ der Gesell-schaft. Im Nationalsozialismus hieß das allein propagierte „Schema Mensch“: Du bist nichts, das Volk ist alles und: Führer befiehl, wir folgen, sowie Rassereinheit, also nicht Jude oder slawischer Untermensch usw.
Dieses schreckliche Szenario, Carl Schmitts „arteigenes Sein“ im Unterschied zu den Feinden, wie es sich nach 1933 rassistisch entpuppte; man kann heutzutage diesen Wahn nur zu begreifen versuchen unter der Voraussetzung einer fatalen Gläubigkeit an eine geschicht-liche Mission, eine Entfremdung des Menschen an ein Etwas, dem er untertan sein wollte.
So zeigt sich, daß Radbruchs These von der Wehrlosigkeit infolge des Rechts-positivismus weit überboten wird durch die hier skizzierte These vom Sog ideologischer Verführbarkeit.
Aber an Radbruchs These bleibt richtig, daß Recht überwiegend nur in seiner instrumentellen Machtfunktion gesehen wurde, als Schutz gehorsamer Bürger durch die Obrigkeit- wogegen Radbruch Gedanken sozialer Gerechtigkeit hervorhob -, sodann aber als Instrument für den nazistischen Staat der „nationalen Erhebung“. Insoweit kann vernachlässigt werden, daß der Positivismus die strikte Gesetzesbindung propagierte, das sog. neue Rechtsdenken der Nazirechtler dagegen richterliche Uminterpretation durch „Einlegung“ (wie Rüthers neuerdings sagt) nationalsozialistischen Gedankengutes.
Dadurch blieb der Gedanke „Gesetz ist Gesetz“ erhalten, denn die Nazirichter blieben der Auffassung, trotz ihrer Umformungskünste die Gesetze, d.h. in Gesetzesform gekleidete obrigkeitliche Befehle anzuwenden, unabhängig davon, daß wahre Gerechtigkeit nicht nur Herrschaftsausübung, sondern auch mitmenschliche Befriedung und gesellschaftliche Gestaltung bedeutet.
Unrechtsurteile der NS-Zeit
Mit Ausnahme von (2) nach Günter Spendel in seinen Studien: Für Vernunft und Recht, Tübingen 2004, S. 215 – 236
AG Wetzlar, Beschluß vom 17.6.1935, JW 1935, 2083, bestätigt vom LG Limburg:
Bereits 3 Monate vor den berüchtigten Nürnberger Rassegesetzen mit dem Verbot der Rassenschande weigerte sich ein Standesbeamter, das Aufgebot eines Antragstellers deutschen Blutes (sic) zur Eheschließung mit einer Jüdin entgegenzunehmen. Der Amtsrichter bestätigte das und das Landgericht Limburg bestätigte den Amtsrichter:
Zwar sei das Aufgebot formal zulässig. Dem zu folgen wäre aber typisch jüdisch-liberalist-ische Moral und Rechtsauffassung. Denn seit der Machtübernahme durch den Nationalsozia-lismus gelte jetzt die Erkenntnis der naturgesetzlichen Einheit von Rasse, Seele und Recht und die Wiederbefreiung des deutschen Menschen von allen schädigenden Einflüssen artfremder Rassen. Die schädigende Blutmischung deutschstämmiger Menschen, die zur Ent-artung führe, müsse verhindert werden.
Der stramme Nazi-Amtsrichter wurde prompt Landgerichtspräsident, der Antragsteller, der bis zu seiner Inhaftierung in wilder Ehe lebte, erhängte sich im Gefängnis.
RG JW 1936, 2537:
Der Vertrag mit dem jüdischen Regisseur Eric Charell mit der UFA für den Film „Die Heimkehr des Odysseus“ enthielt eine Rücktrittsklausel, wenn es infolge Krankheit, Tod oder einem ähnlichen Grund nicht zur Regiearbeit komme. Die UFA trat am 5.4.1933 vom Vertrag zurück und das Reichsgericht betätigte den Rücktritt wegen der jüdischen Abstammung als einem „ähnlichen Grund“.
RG 72, 91 (23.2.1938): Rassenschande im Ausland.
Ein deutscher Jude lädt seine frühere Verlobte im Oktober 1935 nach Prag ein, um von ihr Abschied zu nehmen , ehe er nach Südamerika auswandert. Er hatte in Prag an drei Tagen mit ihr Geschlechtsverkehr. Nach damaliger Gesetzeslage war dieses Verhalten im Ausland straflos. Das Reichsgericht verurteilte gleichwohl, da eine Umgehung des Blutschutzgesetzes vorliege, die wegen „eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staates“ nach gesun-dem Volksempfinden ebenso strafwürdig sei wie im Inland.
4) ArbG Frankfurt/M vom 4.9.1940:
Einem jüdischen Arbeitnehmer wurde die Urlaubsvergütung versagt, weil diese nicht mehr, wie nach jüdisch-liberaler Weltanschauung Gegenleistung für erbrachte Arbeit sei, sondern nunmehr Ausfluß der Treuepflicht des Gefolgsmannes sei und ein solches Treueverhältnis zwischen einem Juden und arischem Betriebsführer nicht bestehe.
Katzenberger-Urteil des Sondergerichts Nürnberg vom 13. März 1942: Justizmord durch Rechtsbeugung
Mordopfer wurde der 68 Jahre alte jüdische Schuhhändler Katzenberger. Er war bereits in Schlesien der Bekannte des Vaters einer arischen, 36 Jahre jüngeren Fotografenmeisterin, deren Ehemann im Krieg war und die in seinem Mietshaus auf einem Grundstück wohnte, auf dem Katzenberger sein Schuhlager hatte. Aus den Geständnissen beider, daß sie sich manchmal geküßt haben und sie manchmal auf seinem Schoß gesessen habe, folgerte das Sondergericht ohne weiteres, daß sie ständigen Geschlechtsverkehr hatten. Zur Todesstrafe reichte das nicht aus, das Sondergericht konstruierte deshalb Rassenschande unter Ausnutzung der Verdunklung als Straftat „gegen den Leib der Frau“, §§ 2 und 4 der Volksschädlings VO. Um die Frau als Zeugin auszuschalten, wurde sie wegen Meineides mitangeklagt und zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Selbst der berüchtigte Freisler hielt das Urteil zwar für vertretbar, aber kühn.
Sondergericht Kassel, Todesurteil wegen Rassenschande 1943
Ein 28jähriger jüdischer Diplomingenieur ungarischer Staatsangehörigkeit, der bis vor zwei Jahren seine jüdische Herkunft nicht sicher kannte, hatte in seiner Studienzeit vier Liebes-verhältnisse mit arischen Mädchen. Er wurde als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zum Tode verurteilt mit der Begründung:
Es ist nach deutschem Rechtsempfinden ein Gebot gerechter Sühne, daß der Angeklagte, der während eines Krieges Deutschlands mit den Anhängern des Weltjudentums die deutsche Rassenehre in den Schmutz zu treten wagte, vernichtet wird.
Dezember 2008
1 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., hg. von Erik Wolf, 1956 S.335 f. (dort wieder abgedruckt)
2wie Fn 1, S.100
3 die ersten beiden Sätze wie Fn 1, S.179; der dritte Satz S. 182
4 beide Zitate wie Fn 1, S. 352 f (Wiederabdruck von <Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht> aus: Süddeutsche Juristenzeitung , August 1946)
5 Zu Kelsen etwa Ralf Dreier, Recht-Moral, Ideologie, 7. Kapitel: Sein und Sollen, Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens, S. 217 ff.
6 vgl. Wieacker, Privatrechtsgerichte der Neuzeit, 2. Aufl.1967,S.431
7 Mitgeteilt von Hugo Ott, Martin Heidegger, Campus Verlag Frankfurt/New York1988, S.227. Dort auch zu der inneren Wandlung des nach 1945 hoch angesehenen Gelehrten Erik Wolf.