Zum Begriff: Hochintellektueller Dummkopf
Wenn ich mir manchmal den Spaß mache und erkläre, ohne den Begriff hochintellektueller Dummkopf würde ich die heutige Zeit nicht verstehen, ist die Reaktion darauf meist ungläubiges Erstaunen. Ist das nicht ein Verstoß gegen den Satz vom verbotenen Widerspruch ? Nein, ist es nicht. Denn der Satz vom Widerspruch lautet in der klassischen Formulierung des Aristoteles: Ein und dasselbe (Prädikat) kann nicht ein und demselben (Subjekt) zugleich und in derselben Beziehung zukommen und auch nicht zukommen, Metaphysik IV 3,1005 b, 19 ff; XI 5, 1061 b, 34 ff. Die hohe Intelligenz hat ihr eigenes Feld und die Dummheit ein anderes Feld.
Zudem habe ich gleichsam Beistand bekommen, als ich auf eine Passage in Kants Kritik der reinen Vernunft in dem Kapitel: Von der transzendentalen Urteilskraft überhaupt stieß, wo es heißt, Urteilskraft sei ein besonderes Talent, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein soll. Kants Anschauungsfeld wird die Kollegenschaft der Universität Königsberg gewesen sein. Im Einzelnen:
Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viele schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopf haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden.
Dazu Kants Fußnote:
Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen….so ist es nichts ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissenschaft, jenen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen, A 134 =B 173.
Das hier zur Sprache gebrachte Mißverhältnis bezieht sich somit auf Abstraktion und Konkretion, im weiteren auf die eindimensionale Rationalität, die Bezüge auf anschaubare Wirklichkeit und individuelle Gegebenheiten vermissen läßt und vorwiegend mit begrifflichen Allgemeinheiten arbeitet.
Ein hochintelligenter Jurist mied einen als < Führung > deklarierten vielversprechenden Vortrag vor Bildern einer berühmten Gemäldegalerie, weil er grundsätzlich an Führungen irgendwelcher Art nicht teilnehme.
Hegel hat insofern eine Gegenposition vertreten, als er in einem geistvollen kleinen Zeitungsaufsatz von 1807 die Frage stellte: Wer denkt abstrakt? Er antwortet: der ungebildete Mensch, nicht der gebildete. Hegel kehrt das landläufige Verhältnis um: Das Einzelne ist für ihn nicht das Konkrete, wenn es außerhalb des Zusammenhangs steht, aus dem sich ein Ganzes bildet. Es bleibt dann isoliert und als Abstraktes aus dem Zusammenhang herausgerissen. Das wahre Konkrete ist für Hegel das im Zusammenhang Stehende mit anderem, das an einem Allgemeinen teilhat
Für wen ein Mörder nichts als ein Mörder ist, denkt abstrakt. Ganz anders ein altes Spitalweib, so Hegels Beispiel, die des Mörders abgeschlagenes Haupt auf dem sonnenbeschienenen Schafott liegen sah und sagte, wie schön Gottes Gnadensonne Binders Haupt beglänzt! Die Alte tat damit, was z.B. unser Jurist nicht tat, nämlich in die Allgemeinvorstellung des Begriffs andere naheliegende Gesichtspunkte aus den Umständen der gegebenen Situation hineinzunehmen, die zu einer konkreten Beurteilung führen konnten.
Das zweite Beispiel von Hegel ist drastischer: „Alte, ihre Eier sind faul“, sagt die Einkäuferin zur Hökersfrau. Diese erwidert darauf nicht sachlich, sondern überzieht die Käuferin mit einem Schwall unflätiger Beschuldigungen und Vorwürfe. Sie denkt abstrakt, indem sie nicht auf die konkrete Sache eingeht, sondern zusammenhanglos lauter Beschimpfungen ausspricht.
Zurück zur mangelnden Urteilsfähigkeit reiner Verstandesmenschen und zu einer Zusammenfassung der Auffassungen von Kant und Hegel, die Blaise Pascal (1623- 1662) mehr als ein Jahrhundert früher auf die knappe Formel brachte, es gebe zwei gleich gefährliche Abwege: den Verstand auszuschließen oder nichts als den Verstand zuzulassen (exclure la raison et de n’admettre que la raison).
Im Extremfall sind reine Verstandesmenschen so weltfremd, daß sie sich in logischer Schärfe und unnatürlicher Einseitgkeit nicht um Dinge kümmern, die neben Verstand ein Anschauungsvermögen und Empfänglichkeit für individuelle Besonderheiten erfordern. Das sind dann hochintelligente Dummköpfe, Leute, die alles verloren haben außer dem Verstand, die, wie die Franzosen sagen, an einer folie raisannante leiden.
Nun gibt es noch eine Variante, intellektuelle Fähigkeiten zu strategisch gespielter Dummheit zu benutzen. Wer, wie ich als Richter eigentlich nie einen „Chef“ hatte, also auch keinen, der den strategischen Dummstelleffekt anwandte, kann sich glücklich preisen. Es gibt viele „Chef“-Strategien, die manchmal notwendig sind, um sich unsachlicher Ansinnen zu erwehren. Aber die Dummstellstrategie ist die verletzendste, wenn jemand berechtigte Anliegen vorbringt und der „Chef“ so tut, als verstehe er nicht, oder in unsachlicher Weise etwas ganz anderes erwidert. Manchmal läßt sich dann nicht entscheiden, ob strategische Dummheit gespielt wird oder echte Dummheit vorliegt. Denn es gibt eben auch echte dumme Chefs.
Dieter Miosge
19.6.2018