Roerich Gesellschaft Deutschland e.V.

 
 


Dieter Miosge

Einige Aspekte für ein menschengemäßes Philosophieren

Dem Kunsthistoriker Reinhard Liess zum 75. Geburtstag gewidmet

Vier Anlässe zum Philosophieren, um vom Negativen zu Positivem zu kommen, die aus vielen anderen hier herausgehoben seien, stehen in Geistesgeschichte und Gegenwart nebeneinander: 

 

• Seit Parmenides die schwankende und ungesicherte Meinung der Menschen (doxa)  und die Unbestimmtheit und täuschungsgeeignete sinnliche Wahrnehmung im Kosmos, die durch geistige Feststellung (= durch nous, noesis) zu überwinden ist.
Bei Descartes abgewandelt zu der Frage nach der Gesichertheit der Erkenntnis, so auch der Außenwelt, oder ob diese und die Vorstellungen davon nur täuschende Traumgebilde seien.
• Die Klage über die Endlichkeit des Menschen und die Vergänglichkeit, Stückwerkhaftigkeit und Wandelbarkeit in der irdischen Welt.
• Das, was seit Kant die unübersehbare Mannigfaltigkeit genannt wird: Alles geht in einem Fluß an uns vorbei, und der wandelnde Geschmack und die verschiedenen Gestalten der Menschen machen das ganze Spiel ungewiss und trüglich. Wo finde ich feste Punkte der Natur, die der Mensch niemals verrücken kann und wo ich Merkzeichen geben kann, an welches Ufer er sich zu schlagen hat [Zit. nach Herman Nohl, Einführung in die Philosophie, 4. Aufl.1948, S.9].
• Heutzutage der Verlust des Bleibens im Wandel hastender Bewegungen, anders gesagt: die Verführung, menschlich und kulturell Bewährtes aufzugeben, um in einer die menschliche Willkür und Beliebigkeit fördernden, aber auch auffangenden Welt  die Lust der Abwechslung zu gewinnen, um dauernde Bindung zu vermeiden.
Das sind nur einige Aspekte, die die  beiden Urfragen der Philosophie ins Spiel bringen: Wo sind wir, wer sind wir? 
Die folgenden Ausführungen haben nicht zum Ziel, diese Fragen zu bearbeiten. Sie wollen nur einige Aspekte andeuten.   

I
Weder Metaphysik noch Antimetaphysik: Bescheidung der Philosophie 
Menschengemäßes Philosophieren, wie es im Titel heißt,  ist  auf der Ebene zwischen Metaphysik und Antimetaphysik anzusiedeln. Metaphysik sieht Quellen, ideelle Urformen und Direktiven menschlichen Seins anfänglich  und letztlich in Absolutsetzungen  oberhalb der Realwelt.  Antimetaphysik beschränkt sich auf die Ergebnisse von positiv-wissenschaftlichen Methoden, heutzutage von sprachlichen, vom Humanen abgelösten Aussagen (linguistic turn),  und reduziert damit den Reichtum und die Fülle der Welt. Solche Ergebnisse stellen sich vielfach als Hochrechnungen von sprachlichen Äußerungen und Datenmengen dar, unter Vernachlässigung sorgfältiger phänomenologischer Beschreibung,  und von Profilen, die Algorithmen liefern. Eine  krasse (lebensweltliche) Antimetaphysik praktizieren gegenwärtig die ins Internet Flüchtenden, die das Internet nicht sinnvoll benutzen,  sondern darin ihre eigentliche Welt zu finden meinen.
Es gibt keine Erkenntnis an sich, sondern nur menschliche Erkenntnis.
Das besagt schon Kants Formel von der Unerkennbarkeit der Dinge an sich und dem Sich-Abfinden mit der Erkennbarkeit von Erscheinungen. Das Absolute Sein zu erkennen ist dem Menschen nicht erreichbar. Damit ist zugleich gesagt, dass Erkenntnis kein Abbilden von überweltlichen Urbildern ist.
Aber die Welt ist nicht bloß unsere Vorstellung, sondern wir machen uns Vorstellungen von der Welt. Menschliche Erkenntnis ist ein geistiges Erschaffen, zu welchem der Mensch die Freiheit hat. Glockners Titel seines  Hauptwerks  Gegenständlichkeit und Freiheit besagt: Der Mensch hat die Freiheit zur Vergegenständlichung. Der Mensch schafft eine geistige Welt in seinem Inderweltsein,  mit Hermann Wein gesagt:  auf der Ebene, die weder Metaphysik noch Antimetaphysik ist.
Der Mensch schafft Etwas aus Etwas, das nennt Glockner Vergegenständlichung, weil für dieses Herstellen nicht nur die Rationalität aufkommt, sondern diese im Verbund mit Aisthesis und Individualität. „Ontologisch-metaphysische Begriffe wie Substanz, Sein an sich, reines Sein, ontos on haben wir dabei nicht nötig“. Die Fundamentalphilosophie, so in Übernahme der Schweglerschen Übersetzung des Terminus proté philosophia des Aristoteles, „lehrt jedoch keine metaphysische Ontologie“. Sie erhebt also nicht den Anspruch, bei der Weltschöpfung mit dabei gewesen zu sein und sich den idealen Ur-Gegenstand gemerkt zu haben, nach dessen ewigem Muster der Demiurg Alles und Jedes eingerichtet hat … Die theologisch-ontologische Frage nach dem absoluten Sein stellt der Fundamentalphilosoph nicht, weil die menschliche  Befähigung und Berufung zur Freiheit zu ihrer Beantwortung nicht ausreicht [Glockner, Gegenständlichkeit und Freiheit, Bd.II, S. 497].
Hermann Wein, von Glockner nicht beeinflusst (umgekehrt auch nicht), formuliert den gleichen  Gedanken so:
Metaphysik jeglicher Art erzählt die Geschichte der Welt. Der Mythos ist der Beginn davon. Metaphysik will die Welt entstehen lassen. Kosmologie als Ordnungslehre aber will die Welt bestehen lassen. Es handelt sich um den Übergang zu einem restringierten Erkenntnisziel. Der endliche Mensch kann das Universale…nicht messen. Er kann nicht das System der Welt deduzieren aus -. Er kann Systematik an der Welt erfassen. Philosophie von der Welt mit dem Anspruch der Vollständigkeit, der Gehäusehaftigkeit, entspricht dem Bedürfnis des endlichen Menschen. Philosophie von der Welt in Anerkenntnis der Unvollständigkeit entspricht der … Realität des endlichen Menschen, seinem ,Stand‘ in der Welt. Insofern ist heutiges Weltdenken durch Kant hindurchgegangen[Hermann Wein, Zugang zu philosophischer Kosmologie, München 1954, S. 80/4].

Fazit: Ein von Philosophen ersonnener Gott kann für Absolutheit und Gesichertheit  menschlicher  Erkenntnis nicht in Anspruch genommen werden. Philosophie hat sich zu bescheiden, sie darf und soll der Religion insoweit keine Konkurrenz machen[1].

Zum Begriff Bildung

Nach Aristoteles ist die Theoria das Angenehmste und Beste [Metaphysik 1072 b 24]. Aber damit ist nicht einer reinen Rationalität das Wort geredet. Vielmehr lautet der Einleitungssatz seiner Metaphysik im Buch A:
„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen, das zeigt schon ihre Vorliebe für die Sinneswahrnehmungen, … vor allem … für das Sichtbare“.  In Kurzfassung: Anthropoi… ton aisthesion agapesis. „Ursache ist, dass dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und viele Unterschiede aufdeckt“. Aition d‘ oti malista poiei gnorizein hemas auté ton aisthesion kai pollas déloi diaphoras.
Mit diesen Sätzen ist der Ausschließlichkeit eines reinen Denkens vorgebeugt, das aus der Lebenswirklichkeit der menschlich bedeutsamen Phänomene in alternativer Hinsicht in eine überweltlich konstruierte Metaphysik ausfliegt oder sich mit einer das wirkliche Dasein verengenden Antimetaphysik begnügt.
Obwohl Aristoteles der erste (Universal-) Gelehrte  gewesen ist, war er kein Gelehrtenstubenphilosoph. So kann man die Philosophen nennen, denen heutzutage nachgesagt wird, bloße Bewußtseinsphilosophie betrieben zu haben, ohne sprachphilosophische und gesellschaftliche Bewandtnisse zu beachten. Er war auch nicht Versammlungssaalphilosoph, um das andere Extrem zu kennzeichnen, so kann man Habermas karikieren, der von einer idealen Situation träumt, in der repressionsfreie Kommunikation von viel Zeit habenden und endlos diskutierenden Menschen stattfinden soll.
In beiden Fällen wird vom  Menschen als perfektem, fertigem Wesen gehandelt und nicht hinreichend bedacht, dass der Mensch ein konstitutiv unfertiges Wesen ist, das sich, wie Hegel und die Philosophische Anthropologie fordern, erst zu dem machen muss, was es sein kann und soll. 
Dann ist es doch redlicher und menschengemäßer, nicht vom vorgeblich perfekten, sondern vom bedürftigen Menschen zu reden, der sich zur Aufgabe setzt, sich „zu bilden“, dies in Anführungszeichen gesetzt, weil der heutzutage schillernde Begriff aus der Verengung auf die gesellschaftlich so notwendige Aneignung naturwissenschaftlich technischen, allgemein gesagt operationalen Berufswissens erweitert werden muss um – im herkömmlichen Sinn – menschliche Substanz (Humanitas)  und menschliche Umgangsqualitäten (anständiges , rücksichtsvolles Benehmen).
Was aber ist notwendig, um einen solchen Status zu erlangen? Viele sehen im Internet das Bildungselexier. Aber das kann zu Oberflächlichkeit und auch zu Vielwisserei führen,  gegen die sich vor 2500 Jahren schon Heraklit wandte.

II
Das menschliche Universalinstrument

Das  legt nahe, auf Descartes geistesgeschichtlich bedeutsame Formel im fünften  Kapitel seines Discours de la methode von 1637 einzugehen.
Dort heißt es:
„Die Vernunft“ (oder der Verstand; im Französischen gibt es diese typisch deutsche Unterscheidung nicht), also: 
la raison est 
un instrument universel, 
nur den Menschen eigen im Unterschied zu den Tieren. Das bedeutet: 
allen Menschen eigen, denn der gesunde Verstand ( bon sens) ist die bestverteilte Sache der Welt, somit von Natur aus allen Menschen gleich, wie es einleitend im ersten Kapitel des Discours heißt,
der Bewältigung in allen menschlichen Lebenssituationen dienend, so dass sich Menschen in den unterschiedlichsten Umweltbedingungen auf der Erde den natürlichen Herausforderungen gewachsen zeigen. Tiere haben demgegenüber keinen Geist (esprit), auch „wenn manche in manchen Handlungen mehr Geschicklichkeit (plus d‘ industrie) zeigen“, aber „die Natur es ist, die in ihnen handelt, nach der Disposition ihrer Organe“ [5.Kap. des Discours].

Diese Unterscheidung  zwischen Tier und Mensch ist noch immer aktuell. Zwar ist Descartes Kennzeichnung der Tiere als Automaten unzutreffend, weil Tiere nicht empfindungslos und nicht gemütlos sind. Außerdem stoßen Verhaltensforscher und Tierfilmer auf immer neue tierische Informationssysteme und lebensbewältigende Verhaltensweise, die Ausdruck von  erstaunlichen Intelligenzleistungen sind.[2]
Aber der Unterschied zwischen Raison als Universalinstrument und der Disposition tierischer Organe sei am Beispiel der Sprache angedeutet. Menschliche Sprache ist das überbiologische und überindividuelle (=objektiv geistige) Verständigungs- und Verstehenssystem, das das Zusammenleben von Menschen gewährleistet und in der Lage ist, neue und bisher nicht bewältigte Lebenssituationen zu meistern. Diese Anpassungsfähigkeit der Sprache aufgrund des „Universalinstruments Raison“ beruht auf der menschlichen Fähigkeit zu argumentieren, sich sprachlich Rechenschaft geben zu können über Sprache: logon didonai. Tiere können sich zwar auch in ihren Informationssystemen neuen Situationen anpassen und auch zu gemeinsamem Handeln formieren, so  durch kommunikative Lautsignale, aber sich nicht sprachlich abstimmen, d.h. über das Für und Wider verhandeln und darüber Rechenschaft geben.
Dazu die Begebenheit, über die Hellmuth Plessner in Göttingen berichtete:
Karl von Frisch, der geniale Entdecker der Bienensprache,  wonach Bienen durch Rund- und Schwänzeltänze neu gefundene Nahrungsquellen nach Entfernung und Winkel zum Bienenstock ihren Artgenossen mitteilen können, war der Auffassung, etwas der menschlichen Sprache Ebenbürtiges entdeckt zu haben. Der Philosoph Theodor Litt widersprach: „Herr von Frisch, wir unterhalten uns über die Bienensprache, glauben Sie, die Bienen können sich in ihrer Sprache über unsere Sprache unterhalten?“ Von Frisch erwiderte ungerührt: „ Wäre denn das ein Vorteil?“
Die Formel „Raison als Universalinstrument“ ist ein auszeichnendes Menschenmerkmal. Aber dieses ist kritisch zu sehen, wenn es als Aushängeschild für eindimensionale  Rationalität  genommen wird. Diese legt Alleskönnerschaft nahe, die Disposition, alles und jedes auf die rationale Ebene zu ziehen, es dort beurteilen oder aburteilen zu können.
Denn rationales Denken und Urteilen vollzieht sich in Beziehungszusammenhängen des Unterscheidens und Verbindens  von Einem und Anderem unter der Herrschaft von Be-griffen und Normen. Indes kann einer von Kants Hauptsätzen  nicht oft genug wiederholt werden:  Begriff  ohne Anschauung sind leer, Anschauung ohne Begriffe sind blind.  Wenn vorschnell Begriffen zugeordnet wird, ohne sich ein „leibhaftiges Bild“ von der Sache oder dem Hergang zu machen, droht das Universalinstrument zum Kriterium der Verwerfung alles dessen zu werden, was verstandesmäßig nicht erfasst werden kann, aber doch thematisiert werden sollte,  und deshalb als subjektiv, irrational, emotional, intuitiv oder überinterpretiert abgelehnt wird.
Ein solcher Missbrauch der Rationalität geschieht in großem Stil unter der Herrschaft von geistigen Systemen wie Religionen, Ideologien und Parteiprogrammen, die Anhängerschaft erheischen, wenn sie sich intolerant zeigen und Andersdenkende abwerten oder gar ungerechtfertigt verfolgen. (Darüber ist hier nicht zu handeln).

III
Die Ergänzung des Universalinstruments

So  ist eine Ergänzung im Rahmen dieses Universalinstruments erforderlich.3
Menschen haben trotz grundsätzlicher Anlage zur Verstandesfähigkeit unterschiedliche Vermögen, Vorlieben, Begabungen. Kein Mensch kann alle möglichen intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten darleben und aktivieren. Es gibt vielseitige, aber oft einseitige Begabungen. 
Philosophisch positiv wird deshalb das Universalinstrument erst dann, wenn in seinem Rahmen das zur Geltung gebracht wird, was das personale Apriori genannt werden kann, im Singular, aber auch im Plural.  

IV
Kurzer geistesgeschichtlicher Rückblick 

Ehe ich das Apriori in einen anthropologischen Sinn umdeute und aus der strengen philosophischen Terminologie vergröbernd herausnehme, gebe ich eine geistesgeschichtliche Erinnerung zum Begriffspaar a priori  - a posteriori. 
A priori: das Erste oder Frühere, im Unterschied zum Nachfolgenden, dem Posteriori, griechisch: proteron -hysteron bedeutet von Aristoteles an  bis in die Zeit vor der Neubestimmung durch Kant etwa den Unterschied zwischen Wesen (eidos) und andererseits dem durch Wahrnehmung, Werktätigkeit und Erfahrung Ermittelten. Der Sache nach war es schon bei zwei der bedeutendsten archaischen Philosophen da, als Übereinstimmung des Logos in Mensch und Kosmos bei Heraklit und des Nous bei Parmenides, beide etwa um 500 v. Chr. geboren. Etwa 50 Jahre nach beiden brachte es Empedokles von Agrigent, noch ganz im archaischen Sinne, auf die knappe Formel: Gleiches wir durch Gleiches erkannt[zit. u.a. von Aristoteles in Metaphysik III 4 1000 b 5 und in Über die Seele 404 b], die Heinrich Rickert als Motto für griechisches Philosophieren genommen hat[Heinrich Rickert, Kant als Philosoph der modernen Welt, Tübingen 1924, 5. Kap.]

Platon

Aber der eigentliche Entdecker des Apriori ist Platon, unter der Bezeichnung proeidenai = Vorwissen.
Es ist ein metaphysisches Apriori, nämlich  der Mythos des Platon von den vorgeburtlich in die Seele gelegten Ablegern der überweltlichen Ideen, den logoi, die durch Erinnerung (anamnesis) im Wege des analambanein, wörtlich: heraufgeholt werden müssen.
Die wahrnehmbaren Einzeldinge sind für Plato unvollkommen. Deshalb kommen Ideen nicht zustande durch eine Zusammenschau abbildbarer Merkmale des Wahrnehmbaren. So ist auch die Idee des Schönen durch die Anschauung von Schönem nicht hinreichend geistig erfassbar.
Die auf die Phänomene gerichtete Sinneswahrnehmung ist für die Erkenntnis zwar notwendig, aber zunächst nur, um von den Phänomenen wegzukommen und den Anlass zu geben zu reiner Denktätigkeit. Diese vollzieht sich in Abkehr von den Sinnesdingen und in Einkehr im Wege des Hinabflüchtens in die menschliche Seele, um dort ein ursprunghaftes Vorauswissen (pro-eidenai) heraufzuholen und sodann den Aufstieg zur Idee zu leisten (der hier nicht darzustellen ist):
Menon 85 d: „ ... selbst in sich selbst Erkenntnis heraufholen“ (analam-banein auton en auto épisteme); Phaidon 75 e: „ Lernen ist das Heraufholen eines uns schon ureigenst (oikeian) angehörenden Wissens“. Was wir von den Sinnen aufnehmen, wird auf das vorher bestehende Sein in der Seele hinbezogen, so wird dieses als unsriger Besitz aufgedeckt und dadurch wiedergefunden [Phaidon 76 d]. 
Erst dann, wenn der Aufstieg zur Idee vollbracht ist, können die Einzeldinge geistig gewürdigt werden. Denn die Phänomene werden durch die überweltlichen Ideen bestimmt, sie sind nur, weil sie an den Ideen teilhaben.
Einzelnes Schönes ist schön, weil es an dem Schönen an sich (auto to kalos) teilhat, aber es verkörpert nie die absolute Vollkommenheit der Idee [Phaidon 100 c ff], welche Ursache (aitia) des erscheinend Schönen ist. So ist das Schöne teilhabend an der Idee des übersinnlich, überirdisch Schönen. Hegel hat diesen Gedanken zusammengefasst in seiner Kennzeichnung des Schönen als des Scheinens der Idee, d.h. des ins Irdische der Erscheinung  Durch- oder Hineinscheinens.

Aristoteles

Bei Aristoteles wird das Thema ontologisch erörtert und lässt sich in den folgenden zwei kurzen Fundamentalsätzen aussprechen:

1. Entstehung aus Gleichnamigem und
2. die Energeia (= das auf Verwirklichung abzielende Vermögen) ist früher als die Dynamis (=das die Verwirklichung ermöglichende stoffliche Seiende); lat.: Actus und potentia;  engl.: actuality und potentiality.
Satz Nr. 1 ist an zwei seiner Beispiele zu erläutern.
Das erste Beispiel: Ein Haus wird aus einem Haus, oikian ex oikias. Der Bau eines Hauses setzt ein Bild des Hauses im Bewusstsein des Baumeisters voraus. Durch Techne entsteht sodann das, dessen Form= Gestalt =Anblick in der Seele = to eidos en te psyché vorhanden ist, [Metaphysik VII, 1032 b].  Das ist das, was Descartes dessein und projet und Kant Entwurf genannt hat. Aufgrund dieses geistigen Entwurfs werden die benötigten Stoffe (Steine, Holz, Metalle) ausgewählt. Das ist die kinesis als noesis, also die gedankliche Bewegung. Sodann wird der Bau ins Werk gesetzt. Das ist die Art der Bewegung (kinesis), die Werktätigkeit (poiesis) heißt.
Karl Marx hat in Erinnerung an Aristoteles ausgeführt:

Eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung …also schon ideell vorhanden war [Das Kapital I, (Ullstein) 1969, S. 148 f]

Aristoteles wiederholt in Metaphysik VII 1034a sein Haus-Beispiel: „Das Haus wird aus dem Haus aufgrund gedanklicher Lenkung“ = è hypò nou, (denn die Techne folgt der Gestalt= è  gar techne to eidos) - und folgert daraus: es entsteht gewissermaßen aus Gleichnamigem= ex homonymou. 

Das zweite Beispiel, Metaphysik VII 1034 a, b:

Auf ähnliche Weise verhält es sich mit dem durch die Natur Entstehenden. Denn der Same bringt in der Weise hervor wie der Künstler das Kunstwerk. Er hat nämlich die Form dem Vermögen nach in sich, und dasjenige, wovon der Same ausgeht, ist in gewisser Weise ein Gleichnamiges.

Diese Analogie darf nicht so verstanden werden, als geschähe in der Natur noesis und poiesis wie im Beispiel des Hausbaus. Sie ist nur erhellend im Aufzeigen des Früheren und dessen Verhältnis zum Späteren, das in gewisser Weise durch ein Gleichnamiges verbunden ist.[5]  

Nun Satz Nr. 2 vom Vorrang der Energeia vor der Dynamis:  proteron energeia dynameos estin [IX, 8 1049 b, 1050 b], wiederum am Hausbau-Beispiel zu erläutern. Im Deutschen wird  irreführend übersetzt, die Wirklichkeit ist früher als das Vermögen. Energeia, von dem unser zivilisatorisches Schicksalswort Energie herstammt, ist eine Worterfindung des Aristoteles:
„Das Werk (ergon) ist Zweck, die Wirklichkeit aber ist das Werk. Daher ist auch der Name Wirklichkeit von Werk abgeleitet und zielt hin auf Vollendung = entelecheia, [IX 8,1050 a, 22ff]. 
Die Verwirklichung als Verwerklichung beginnt mit dem gedanklichen Entwurf, dem eidos en te psyché, sodann ist die Inswerksetzung der potente, vermögende kausale Akt, (die kinesis als poiesis),  der das Werk in der Realwelt zur Vollendung führt.
So muss es heissen: Die Energeia, die  auf Verwirklichung angelegte oder abzielende Tätigkeit (qua noesis) ist früher als der Kausalvorgang des Zustandebringens des nach dem Entwurf (eidos) tatsächlich in die Wirklichkeit gesetzten Vorgangs der Werkherstellung = Dynamis.




Kant

Kant bestimmt die Erfahrung und das der Erfahrung Vorausliegende neu, nämlich transzendentallogisch.   Das Apriori liegt im menschlichen Gemüt (Kants Name für das geistige Bewusstsein), also nicht im Wesen der Dinge, sondern geht der Erfahrungserkenntnis als den regelnden Verstandesbestimmungen voraus, es ist somit erfahrungsfrei, aber erfahrungsbegründend. Es formt den Erfahrungsstoff zu Erscheinungen durch die Anschauungskategorien Raum und Zeit und die Verstandeskategorien, insbesondere die Kausalität, zur Erfahrungserkenntnis.

Das Neue ist, dass der Mensch sich nicht abbildend der Wirklichkeit hingibt, sondern diese aus geistiger Fähigkeit= Freiheit aus sich heraus bewusst machen und geistig Neues schaffen kann. Das setzt voraus, dass er zuvor in seinem geistigen Bewusstsein die verschiedenen Organqualitäten aktivieren kann und Beurteilungskriterien bereit liegen hat, um die Welt und die Menschen zu verstehen.

Der Grundbefund, die geistesgeschichtliche Entdeckung Kants ist, dass die Dinge sich zwar zeigen oder zum Zeigen gebracht werden müssen, aber sich nicht von sich her aussagen, d.h. nicht, was sie sind  und in welchem Zusammenhang sie stehen, welche geistige Bedeutung sie haben.  Deshalb müssen wir  ihnen sagen, was sie in geistiger Hinsicht sind, welche Bedeutung sie haben. So sind die Dinge Erscheinungen, „die nach synthetischer Einheit buchstabiert“ werden müssen, „um sie als Erfahrung lesen zu können“, [Kritik der reinen Vernunft B 371], als wissenschaftlich gesicherte  Erfahrung, 
V
Das personale Apriori

Nun die Anthropologiesierung, d.h. die ins lebensweltlich und alltäglich Menschliche hineingenommene Bedeutung des Apriori als eines personalen. Das lässt sich vorab mit
einer gewissen Drastik per negationem in zwei Bildern angeben. Das eine ist Luthers Diktum von den Perlen, die vor die Säue geworfen werden, das  andere die Parabel vom schwerhörigen Löwen im Rift Valley westlich von Nairobi, wo zwei Löwen einem Geiger andächtig zuhören, bis ein dritter, der schwerhörig ist, den Geiger auffrisst. 
Da fehlt, wie es im Bild des biblischen Gleichnisses heißt,  der bereitete Erdboden, ohne den das Samenkorn nicht wachsen und fruchtbar werden kann.
Positiv sei das zunächst angedeutet, wenn das geistige Bewusstsein als wertvernehmendes Organ mit unterschiedlichen Organqualitäten bezeichnet wird. So gibt es  musikalische Menschen und  Virtuose des Augensinns mit hoher ästhetischer Empfindsamkeit. 
Wo solche Geistesqualitäten beiderseits, korrelativ zusammentreffen, bei Gebenden einerseits, bei dafür Empfänglichen andererseits, findet verständnisvolle Begegnung statt, andernfalls eher Irritation und Verständnislosigkeit.  Denn es gibt auch Unmusikalische, die Geräusche nicht von Melodien unterscheiden können und Menschen von optisch intaktem Sehvermögen, die für Schönheiten in Natur und Kunst blind sind. 
Der von mir gern zitierte Umweltbiologe Baron Jacob von Uexküll (1864 – 1944) bringt in seinem Erinnerungsbuch Niegeschaute Welten von 1936 im Einleitungskapitel folgendes Beispiel über die Schönheit des Golfs von Neapel:
Von den Phlegräischen Feldern zurückkommend in einer Carrozzella mit einem zerlumpten Cocchiere, erreichten sie die Höhe des Posilipo. Der Golf  lag in farbenprächtiger Schönheit. Uexküll glaubte, das sei für den Kutscher von gleichgültiger Normalität. Da erhob sich dieser, mit der Peitsche weit ausholend, und rief begeistert aus: „come e bello, come e bello“. Uexküll schrieb: „Er stand da wie ein Märchenkönig, der aus dem unermesslichen Schatz seiner Reichtümer mir diesen Abend schenken wollte“. 
Zum Kontrast schildert Uexküll einen märchenhaft reichen Amerikaner, der Neapel als die schönste Stadt der Welt erleben wollte. Aber die Ausfahrt auf den Posilipo war für ihn eine Enttäuschung, ebenso der Ausflug nach Pompeji. Nach ein paar Wochen musste man ihn, der sich mit Schnaps und Champagner getröstet hatte, wegen Delirium tremens nach Hause schaffen.

Ebenso beispielhaft, ohne Zuordnung zu einzelnen geistigen Wertgebieten, sei die Herkunft von  verschiedenen  personalen Apriori aufgezählt. Schleiermacher, der für ein religiöses Bewusstsein in kantisch rationaler Zeit in seinem Buch von 1799: Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern warb, fand dafür den herrlichen Ausdruck „Provinz im Gemüt“.

Das Apriori kann:
• angeboren, poetischer gesagt: in die Wiege gelegt sein,
• auf Prägung beruhen, erweckt durch ein, auch unbewusstes Ereignis;
Eine solche Prägung ist an der von Michelangelo ausgemalten Decke der Sixtinischen Kapelle  erahnend anzuschauen, wenn man das vierte Bild nicht Erschaffung, sondern Beseelung Adams benennt. Diese steht durch Berührung der Finger von Gott und Adam kurz bevor und lässt zugleich ein blickhaftes Erfassen der mädchenhaften Frau erwarten, die Gott, umgeben von einer Schar von Engeln, in seiner Linken umfängt[6]. Das ist ein genialer Vorgriff des nachfolgenden Ablaufs der Schöpfungsgeschichte: das Entspringen Evas aus einer Rippe Adams folgt erst im fünften Bild;
• durch Einarbeitung in ein neues Sachgebiet entstehen, das dem Bearbeiter so viel gibt, dass er zum Virtuosen wird,
• durch Erfahrung klug und intim sachkundig machen,
• aus existenzieller Not geboren werden.

Diese Aufzählung, die eine Zuordnung zu Wertgebieten vermeidet, will nur zeigen, dass die qualitativen Erweiterungen des Universalinstruments Ratio = Verstand oder Vernunft nicht immer nur durch in die Wiege gelegte Talente und Begabungen bis hin zum Genie erbracht werden, sondern auch in vielen Fällen erworben werden können.

Anschauung (aisthesis)

Als geistig notwendige Ergänzungen des Universalinstruments Ratio seien im Sinne der Trias: rational, phänomenal, individuell, dem „rational irrationalen Zusammen“ von Hermann Glockner (1896 – 1979), (heutzutage weitgehend vergessener Philosophieprofessor in Braunschweig),  Anschauung (aisthesis) und Individualität in lebensweltlicher Bedeutung dargestellt.
Thesenartiger Ausgangspunkt ist wiederum Kants Fundamentalsatz: Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauung ohne Begriffe sind blind.
Mitte des 19. Jahrhunderts haben viele Europäer die Nachricht der Missionare Krapf und Rebmann von den Schneebergen am afrikanischen Äquator, Kilimandjaro knapp südlich und Mt. Kenia knapp nördlich, für Phantasie gehalten, weil ihnen die Anschauung dafür  fehlte.[7]

Die Vorstellung des bildhaft Anschaulichen, die in vielen Fällen erst die Lebenswirklichkeit geistig erfahrbar macht, kann Philosophen, Politiker und andere auf erdhaftem Boden halten und vor rationalen Spinnereien verschonen.
Im Juli 2010 sind bei der Love Parade in Duisburg im Bereich des einzigen 
Tunnelein- und ausgangs(!) für mehr als 250000 Besucher zu einem stillgelegten Eisenbahnrangiergelände bei einer Massenpanik 21 Menschen an Brustquetschungen zu Tode gekommen und etwa 500 verletzt worden.
Mit mehr Augensinn hätte man an Ort und Stelle sofort erkennen können, dass das verlassene Güterbahnhofsgelände völlig ungeeignet war und alle rationalen Organisations- und Sicherheitsplanungen, die von der Stadtverwaltung  als so gut wie nirgends bisher geschildert wurden, am untauglichen Objekt praktiziert wurden.
Wenn man offenen Auges die menschliche und die naturhafte Mit- und Umwelt sieht, staunt man, wie viele wenig von ihrer Umwelt sehen, anstatt mit interessenloser Neugier Anzuschauendes aufzunehmen. Zusätzlich scheinen Handy und Internet das dreidimensionale Sehen der die Menschen umgebenden  Wirklichkeit verkümmern zu lassen. Gerade das Auge ist doch ein bildbares Organ und durch Anleitung und Übung weitgehend ausbildungsfähig – aber nicht durch das Internet!
Anschauung (aisthesis) ist nicht wie zu Leibniz‘ Zeiten verworrenes Denken, welches  der Klarheit der Gedanken schadet, sondern eine eigene geistige Dimension, die eindimensionale Rationalität sprengt und ergänzen muss. Heutzutage wird Anschauung von den Modehörigen geistig vernachlässigt im Sog des linguistic turns, wo der fundamentale Unterschied von Text- und Bildhermeneutik verkannt wird und die kulturellen Objektivationen: Texte, Bilder, Gegenstände in einen Topf geworfen werden, so dass pauschal  von Sprachzeichen und Bildzeichen gesprochen wird.
Nun hatte zwar Kant seine Entdeckung der Eigenbedeutung der Anschauung noch nicht erschöpfend zur Sprache gebracht. Er hat Anschauung in seinem rationalen Form/Inhalt–Schema als im menschlichen Gemüt angesiedelte Formen von Raum und Zeit gekennzeichnet, im Anschluss an Newton und im Ausgang von der Geometrie.
Die eigene Dimension der Anschauung in Ergänzung des Rationalen verstehen wir aber heutzutage im unmittelbaren Erfassen des leibhaftigen Ganzen, das eine unmittelbare Vorstellung im menschlichen Bewusstsein  darbietet.
In seiner Marburger Vorlesung im SS 1925 hat Heidegger die Anschauung definiert als „das schlichte Erfassen des leibhaft Vorgefundenen, so wie es sich zeigt“[8], in der Logikvorlesung im WS 1925/26 sodann in der geballten Formel:
„Anschauung ist das unmittelbar erfassende Haben des Seienden in seiner leibhaftigen Vorhandenheit.“[9] 
Glockner spricht vom „unmittelbar im Bewusstsein Haben von Gestalthaftem und unmittelbarer Ganzheitsschau“, die aber nicht, wie bei Kant, bloß rezeptiv ist, dem Gemüt gegeben, sondern zugleich  als Leistung vollzogen wird.

Anschauung ist unmittelbares Vorstellen und damit konkret, sprachlich vermitteltes Vorstellen ist mittelbares Vorstellen und bleibt leicht im Abstrakten, wenn es sich nicht auf unmittelbare Vorstellungen = Anschauungen beziehen kann.
Das begriffliche Vorstellen = Urteilen ist ein mittelbares Vorstellen: die Vorstellung einer Vorstellung, [Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 93.]
Heidegger erläutert: „Als mittelbare Vorstellungen sind die Begriffe nicht direkt auf das Seiende bezogen, sondern auf dieses, sofern es schon durch die unmittelbaren Vorstellungen, durch Anschauungen gegeben ist“, [Vorlesung im WS 1927/28, Band 25, 171.]
Die Ergänzung des Universalinstruments Raison  lässt sich zusammenfassend auf die beiden Begriffspaare abstrakt – konkret und mittelbare und unmittelbare Vorstellung bringen. So wird eindimensionale Rationalität vermieden. 

Individualität

Nun zum Individuellen, das meist als Einzelnes bezeichnet wird, aber seine 
philosophische Bedeutung erst erhält, wenn es als das Einzige, Eigentümliche, Einmalige gesehen wird. Individuelles ist also nicht bloß  Einzelnes im Unterschied zum Vielen, Allgemeinen. 
An sich ist alles einmalig, schon durch seine Verschiedenheit gegenüber Anderem im jeweiligen Zustand von  Ort und Zeit.

Allem und jedem in der Welt (kommt) Individualität zu, das aber heißt nicht Unteilbarkeit, sondern Einzigkeit. Einzig ist jeder Augenblick, einzig jeder Ort, einzig jeder Gegenstand, einzig jede Handlung, einzig vor allem jeder Mensch[10]. 

So hat auch jeder Mensch einen unverwechselbaren Fingerabdruck, in jüngster Vergangenheit ist noch der genetische Fingerabdruck, die DNA hinzugekommen.
Leibniz, der große Universalgelehrte, Philosoph und Polyhistor (1646 – 1716), dessen Hauptprinzipien Rationalität und Individualität gewesen sind, schrieb in seinem kurzen Fundamentaltext in französischer Sprache, der Monadologie in C 9:

Es ist sogar notwendig, dass jede einzelne Monade von jeder anderen verschieden ist.
Denn es gibt in der Natur niemals zwei Wesen, von welchen das eine vollkommen so ist wie das andere…

Einer der fürstlichen Frauen, mit denen er geistigen Umgang hatte, der Kurfürstin Sophie von Hannover, schrieb er am 31.10. 1705 anerkennend, sie habe das Prinzip der Individualität „wohl erkannt, als Sie den verstorbenen Herrn von Alvensleben im Park von Herrenhausen aufforderten zwei Blätter zu finden, deren Ähnlichkeit vollkommen wäre, und er solche nicht fand“.
Aber im praktischen Leben, mit Ausnahme der hilfreichen Entdeckung der DNA in der forensischen Praxis der Verbrechensermittlung und der Vaterschaftsfeststellung, kann das Individuelle weitgehend vernachlässigt werden. Deshalb wird ja so oft, wenn von Individuellem die Rede ist, bloß das Einzelne gemeint.

Individualtät im eigentlichen Sinne hat ihr Feld dagegen im privaten Bereich, in der Kunst, der Literatur und der Geschichte. Um Sinn für das Individuelle als Einziges, Einmaliges zu haben, ist ein Bewusstsein erforderlich, das ein personales Apriori für solche Einmaligkeiten „im Gemüt bereit liegen“ hat, (Kants Formulierung, bei ihm zwar nicht auf das Individuelle bezogen, für das er wenig Sinn hatte).
Solche Heraushebung geschieht nicht rational, also nicht nach allgemeinen Kriterien des logischen Unterscheidens und Verbindens, sondern eben irrational.
In wissenschaftsgläubiger Zeit ist „irrational“ meist ein Schimpfwort. Wer nur Rationalität qua Wissenschaftlichkeit kennt und praktiziert, nennt das Nicht-Rationale abwertend irrational, subjektiv, emotional, intuitiv oder überinterpretiert.
Aber es gibt eben, ohne das Rationale zu verdrängen, in dieses quasi eingebaut, auch das positiv Irrationale: Anschauung und Individualität. Beide sind durch geistige Leistungen zu aktivieren.
Nochmals: Das Rationale ist kraft Urteils in allgemeine Ordnungs- oder Regelschemata, in Beziehungszusammenhänge eingeordnet oder von diesen unterschieden. Rationales Denken ist begriffliches Denken des Unterscheidens und Verbindens nach abstrakten (= von Einzelfällen abgezogenen) Merkmalen, bezogen auf allgemeine Sachverhalte und auf konkrete Einzelfälle.
Zu letzerem ein einfaches, im Versuch steckengebliebenes  Beispiel :
Jemand lädt zu einer Feier alle Arbeitskollegen ein. Außerdem gibt es noch zehn ehemalige Kollegen, aber es könnten aus Platzgründen nur drei eingeladen werden. Das unterlässt er, weil er kein rationales Auswahlkriterium für drei Einzelne aus zehn Ehemaligen findet.
Wie hebt sich demgegenüber das Einzige, Einmalige, das zum Individuellen erhoben wird,  aus dem Einzelnen heraus? Indem das geistige, mit personalem Apriori ausgestattete Bewusstsein es in seinem Wert erfasst und ihm damit bewusst etwas verleiht, ihm etwas schenkt. Diese Hinwendung geschieht aus emotionaler Verbundenheit, deren höchste Form die Liebe ist, oder aus Erinnerung an Erlebnishaftes, Denkwürdiges, das an Menschen und Dinge geknüpft ist.
Eines ist die Individualität der schöpferischen Persönlichkeiten, der bedeutenden Geister, die ihre Individualität, ob sie das wollen oder nicht, in ihre geistigen Hervorbringungen in unterschiedlicher Weise hineinlegen. Schiller schrieb an Fichte:

Schriften aber, in denen sich ein Individuum lebend abdrückt, werden nie entbehrlich, denn sie enthalten in sich ein unvertilgbares Lebensprinzip, eben weil jedes Individuum einzig und mithin unersetzlich ist.

Das gilt nicht nur für Schriften, sondern für alle Geisteswerke, insbesondere für bildliche und plastische Kunst.
Aber im Verfolg unseres Gedankenganges, der das personale Apriori als allgemein Menschliches im Auge hat, sei die Fähigkeit hervorgehoben, Menschen und Dingen  Individuelles zuzusprechen, das sodann empfangen, entgegengenommen werden kann.
Da ist wieder zu unterscheiden:
• der Wert an sich, der dem individuellen Menschen oder dem Gegenstand eingeprägt ist und der erkannt und gewürdigt zu werden verdient,
• irgendwelche Gegenstände, die aber qua Erinnerung an einmalige Erlebnisse und Begebenheiten ins eigene Bewusstsein treten können.
So ein Strauß von Stachelschweinborsten, die ich als Erinnerungsstück aus Afrika mitbringen wollte und die ich tatsächlich im Massai Mara Reservat  in Kenia bei einem im Kampf tödlich verendeten Tier vorfand.
• seit langem vertraute Gegenstände: Elterliche Möbel aus dem Jahre 1931, die russische Besatzungssoldaten beim Abzug aus unserer besetzten Wohnung zurückließen, während sie die meisten mitnahmen, und die danach eine Odyssee in Schuppen und Lagerböden zunächst im Osten und dann im Westen hinter sich hatten, ehe unsere Wohnungen nacheinander so geräumig wurden, dass sie wieder aufgestellt werden konnten. Im Brief vom 13.11.1925 an Witold Hulewicz, seinen Übersetzer ins Polnische,  beklagte Rilke 
das immer raschere Hinschwinden von so vielem Sichtbaren, das nicht mehr ersetzt werden wird. Noch für unsere Großeltern war ein ‚Haus‘, ein ‚Brunnen‘, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel:…fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzusparten.
[in der einbändigen Ausgabe: Rilke Briefe des Insel Verlags, 1950/1980, S.898]

Heutzutage haben es der technische Fortschritt und die raffinierte Reklameindustrie geschafft,  ein Bedürfnis nach Neuerung zu erzeugen, das zwar vernünftig ausgeübt lebensdienlich und erleichternd ist. Auch ich bin natürlich begeistert von Computer und  Digitalkamera.  Aber es gibt inzwischen eine Sucht nach dem Neuesten, des Auswechselns von Dingen je nach der neuesten Mode, nur um mit dem Neuesten repräsentieren zu können, die ein Vertrautsein mit Individuellem schwerlich aufkommen lässt.
Das Moment der Dauer, das zur Wertschätzung des Individuellen als des Einmaligen gehört, wird im Märchen Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupery deutlich in der Mahnung: „Du bist verantwortlich für deine Rose“. 
Der kleine Prinz glaubte, die eine Rose, die er auf seinem kleinen Planeten im Weltall hat, sei einzig auf der Welt, und er war enttäuscht, auf der Erde ein Feld zu sehen, wo alle Rosen so aussahen wie seine. Aber der Fuchs nahm ihm diese Enttäuschung und belehrte ihn, seine Rose sei für ihn doch unique au monde. Denn das vergessene Geheimnis sei, durch Schaffung eines vertrauten Bandes Einmaliges zu gewinnen. „Für dieses bist du immer verantwortlich. Du bist verantwortlich für deine Rose“= responsable i.S. von dauerhaft verbunden und Anteil nehmend.

Die folgende These sei gewagt. Würde es nicht weniger kaputte Ehen und weniger Ehescheidungen geben, wenn die Ehepartner in der Lage wären, ein solches Gefühl für die Dauer des Einmaligen zu erhalten (im Doppelsinn von gewinnen und dauern lassen), anstatt sich neuerungssüchtig in Abwechslungen zu stürzen?

VI
Das Fragen

Das Fragen gehört zu den auszeichnenden Fähigkeiten der Menschen und der Mitmenschlichkeit.  Wo das Fragen verboten oder nicht genehm ist, regiert Unmenschlichkeit.
Als auf einem eiseskalten Eisenbahntransport in ein KZ ein Zuginsasse bei einem Halt auf einem Bahnhof einen Eiszapfen abbrechen konnte, um seinen Durst zu löschen, wurde ihm dieser von einem SS-Mann aus der Hand geschlagen. Der Jude fragte: „Warum?“ und der SS-Mann sagte: „Hier wird nicht gefragt“.
Eine englische Karikatur zeigt einen Philosophen am Schreibtisch, dahinter ein Regal, links mit der Aufschrift: FRAGEN, rechts mit der Aufschrift: ANTWORTEN. Die linke Hälfte des Regals ist fast leer, die rechte überbordend voll.
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Antworten meist länger ausfallen als Fragen, zumal diese unterschiedlich beantwortet werden können. 
Der Philosoph Paul Hensel (1860 -1930) schrieb in einem Brief vom 26.5.1884 an seine Schwester:
…sowie man zu Kant selbst kommt, vergisst man all die Kleinlichkeiten seiner Ausleger …und wenn man das einsieht, kann man über ihn lesen …ohne sich dazu zu bestimmen, den großen Kant nach der Kleinheit seiner Ausleger abzumessen und zu beurteilen [Paul Hensel, Sein Leben in seinen Briefen, Wolfenbüttel-Hannover 1947, S. 33]. 
Das kann als ein ironischer Kommentar zu Schillers Distichon aus den Xenien gelesen werden:

Kant und seine Ausleger
Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
Setzt! Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner zu tun.

Mit der englischen Karikatur ist ersichtlich gemeint, daß die Entsprechung zwischen Fragen und Antworten, das Stellen von Fragen und das Eingehen auf Fragen, verloren geht und die Antworten, bisweilen aus angemaßter Besserwisserei, ein inflationäres Eigenleben führen. Wenn Fragen nicht verstanden werden, häufen sich oft die Antworten. Andererseits stellen Narren mehr Fragen, als weise Leute beantworten können, sagen die Engländer. Wenn und wo aber Fragen zu klugen Antworten führen können, gibt es keine dummen Fragen.
Zurück zu Kant. Er ist es gewesen, der den Naturwissenschaften einen sicheren Weg der Forschung vorgezeichnet hat, nach dem blinden Herumtappen in den vorausgegangenen Jahrhunderten. Diesen sicheren Weg erkannte er in einer Methodik des Fragens. Er knüpfte damit, ersichtlich ohne das zu wissen, nach zweitausend Jahren unmittelbar an Aristoteles an, der (s.o) vom eidos en psyché, dem Entwurf des zu Gestaltenden in der Seele, sprach.
Kants für die 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft geschriebene Vorrede B gehört zu den bedeutendsten Texten der griechisch europäischen Geistesgeschichte. Es heißt dort B XIII von allen Naturforschern wie z.B. Galilei und seiner Erforschung der Fallgesetze mit Kugeln auf einer schiefen Ebene oder Torricelli, dem Erfinder des Barometers, ihnen sei ein Licht aufgegangen. Und nun wörtlich:
Sie begriffen, dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt
...Die Vernunft muss mit ihren Prinzipien...in einer Hand und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen lässt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. (Im Original nicht hervorgehoben).

Diese Methodik des Fragens trägt die im menschlichen Gemüt angesiedelten apriorischen Anschauungs– und Verstandeskategorien an das, was sich zur  Erscheinung konstituiert, heran, weil nur so der Verstand die allgemeine Ordnung der Natur zur Erkenntnis bringen kann. Das besagt der zu Missverständnissen Anlass gebende Satz, der Verstand schreibe der Natur ihre Gesetze vor. Die Dinge sagen sich eben nicht von sich her aus.  Deshalb müssen wir ihnen sagen, was sie sind und in welchem (vorwiegend ursächlichem) Zusammenhang sie stehen. Das geschieht durch Fragen aufgrund einer vorab ausgedachten und im Verlauf der Erforschung auch abzuändernden Strategie, einem Entwurf der Vernunft. 
Das von Kant herangezogene Juristische dieser Beschreibung ergibt sich am klarsten am Strafprozess:  Der Entwurf ist die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die hinreichenden Tatverdacht erfordert,  der daraufhin stattfindende gerichtliche Strafprozess, in dem die Fragen bezüglich der angeklagten Tat geklärt werden müssen,  entspricht dem Experiment.

Es gibt auch Fragen, die keine Antwort erheischen, weil sie den Sinn in sich tragen: Heidegger sah nach dem Debakel seiner Huldigung Hitlers gleichwohl noch das Heil der Welt im Empfangen des Seinsgeschicks, weshalb er Seyn mit y schrieb. Das nannte er die Kehre, wonach das Dasein = Subjekt Mensch nunmehr nicht mehr im Zentrum der philosophischen Problematik stehe, sondern die „Menschheit aus dem Seyn gegründet“ werde. Was sein Antipode Nicolai Hartmann in Göttingen davon hielt, fasste dieser 1947 in eine Frage an seinen damaligen Assistenten Hermann Wein: „Wein, schreiben Sie sich jetzt auch mit y?“ 

VII
Das Verstehen 

Das Fragen als philosophisches Instrument sei abschließend unter dem Topos Hermeneutik thematisiert. Hermeneutik wird vom Götterboten Hermes abgeleitet. Dieser  hat seinen Namen von den Herma, den Steinhaufen aus uralter Zeit, auf die jeder Vorübergehende einen Stein hinzu warf, um sie nicht zum Verschwinden zu bringen. Das waren Wegzeichen, Grenz- oder Grabsteinen, die eben als Zeichen zu deuten waren, wie es die Sprachen, diese menschlichen Zeichensysteme, ebenfalls erfordern. Hermeneutik bezieht sich somit auf geistige Gehalte, d.h. auf menschlich Verbindendes und aus der egozentrischen Enge bloßen Umkreisens seiner selbst Herausführendes in das Offene von Mitmenschlichkeit, menschlicher Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit. Wenn Hermeneutik das Verstehen thematisiert, so handelt es sich in diesem Sinne um das Sich-Verstehen auf die eigene Lebensführung in Schule und Beruf, in der Mitmenschlichkeit, in Ehe, Familie, Gemeinschaft aller Art, sowie als Staatsbürger. Das ist etwa das, was Heidegger, allerdings weitgehend auf „Sorge“ bezogen, Anfang der 20er Jahre Hermeneutik der Faktizität genannt hat. Überdies geht es um die Durchbrechung dessen, was die Maßgeblichkeit des Eigenschaftlichen und das Von-sich-auf-andere- Schließen genannt werden kann, diese egozentrische Rechthaberei, alle anderen müssten das denken, fühlen, gutheißen, wollen, wie einer selbst. Zusammengefasst: Das Bewusstsein trennt, der Geist verbindet (Nicolai Hartmann). Denn Geist ist Teilhabe.

Im klassischen Sinne ist Hermeneutik Texthermeneutik, ursprünglich bezogen auf theologische und juristische Texte, die auszulegen sind und im Wege der Applikation (Gadamer) in Predigten und juristischen Urteilssprüchen aktualisiert werden müssen. Bei Schleiermacher und Dilthey, der die Dichtung ins Blickfeld nahm, geht es um den Nachvollzug von Erlebnissen der Autoren. „Die Natur erklären wir, das geistig seelische Leben verstehen wir“ (Dilthey). Aber diese Formel ist zu ersetzen durch den Satz: Das Erklären geht dem Verstehen voran, insbesondere bei diachronischen, die Vertrautheit mit historischen Gegebenheiten voraussetzenden Texten. Verstehen als das Erfassen von Sinn und Bedeutung erfordert aber durchaus ein Sich- Hineinversetzen, auch ein Einfühlen, (das von puren Rationalisten heutzutage verketzert wird). 

Benedikt XVI Josef Ratzinger bittet für seine Jesus-Darstellung „nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne die es kein Verstehen gibt“. Das Verstehen ist die große Chance, den eigenen Bewusstseins- und Erlebnishorizont durch den Nachvollzug fremden Erlebens zu bereichern. So ermöglicht Hermeneutik die Erfahrung von Anderem in historischer, kulturell-ethnologischer, aber auch individueller Dimension. Sie ist das Gegenmittel gegen die Befangenheit in arteigenem Sein wie in den schrecklichen Zeiten totalitärer Herrschaft.

Fragen, als das Befragen von Texten, erfordert vorgängige Vorstellungen, mit denen man sich dem Text nähert. Hierbei ist zu beachten, dass der Text nicht die Sache selbst ist, sondern sich auf die Sache bezieht, auf die sich die Fragen richten.

Platon lässt den Sokrates im Theätet sagen: „Rede nicht vom Wort, sondern betrachte die Sache (pragma), von der die Rede ist“ [177 e].