Roerich Gesellschaft Deutschland e.V.

 
 


Dieter Miosge                                         

Auf dem Wege von einer kunstgeschichtlichen Hermeneutik zur Bild-Hermeneutik 
Mit Streifzügen durch das Herzog Anton Ulrich Museum in Braunschweig

Dem Philosophen der Aisthesis, Professor Dr. Reinhard Liess, zum 80. Geburtstag gewidmet. 

Als Pendant zur Texthermeneutik ist der Topos kunstgeschichtliche Hermeneutik relativ neu. Er ist aber zu sehr mit Ausführungen über die Geschichte der Kunstgeschichte befrachtet, also mit der Thematisierung von wissenschaftlichen Meinungen über Kunst, ja sogar der Geringschätzung schöpferischer Künstlerpersönlichkeiten zugunsten von gesellschaftlichen Zeitströmungen, die angeblich Kunst werkstattartig hervorgebracht haben,  statt mit der unmittelbaren Befassung der Kunstwerke und deren schöpferischen Urhebern.
Zutreffender sei deshalb von Bild-Hermeneutik gesprochen, die in der Entfaltung des Augensinns ihre Domäne hat und die mit Meisterschaft von Reinhard Liess betrieben wird, den ich deshalb seit langem den Philosophen der Aisthesis nenne. Ihm sind die folgenden Überlegungen, die ganz aus unseren Jahrzehnte währenden Begegnungen zehren, zu seinem 80. Geburtstag gewidmet.
Vorangestellt seien zwei kurze Kapitel über Kunstgeschichte der herkömmlichen Art.
I.
Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (17. Aufl.,1979) gibt entsprechend seinem neukantischen Motto: „Es ist eine Forderung intellektueller Selbsterhaltung, die Un-begrenztheit des Geschehens nach ein paar Zielpunkten zu ordnen“ , (2. Aufl.1917, 244) eine erkenntnistheoretische Herausarbeitung von allgemein-formalen künstlerischen Darstel-lungstypen, Stilformen und Herstellungsweisen. Er will, um hier nur auf die Malerei hinzuweisen, verschiedene Bildgruppen kennzeichnen, orientiert an der szenischen Anordnung  vom Gestalten und Sachen in der Bildfläche und der Erzeugung von Raumvorstellungen. So unterscheidet er: 
Lineares und Malerisches
Fläche und Tiefe
Geschlossene und offene Form
Vielheit und Einheit 
Klarheit und Unklarheit

 
II.
Oskar Bätschmann: Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik (6. Aufl., 2016) gibt einleitend einen langen historischen Bericht  zum Thema Sprache und Bild, u. a. mit den Kapitelüberschriften: Der Primat der Sprache und der Texte; Lesen oder Sehen?; Sind Bilder Texte?  Er kommt sodann zu der zutreffenden Kritik an einem Mißtrauen gegenüber dem, was ein Bild zeigt, sowie gegen das Sehen als einem niedrigen Erkenntnisakt und einem täuschbaren Vermögen, S. 33. Bilder können nicht wie sprachliche Texte gelesen werden, etwa nach dem Muster der Oberfläche als Schleier und der Tiefe als Wahrheit , S. 34. Bilder können nicht unter die Sprache gestellt und als uneigentlicher Modus der Sprache betrachtet werden, S. 54.
Endlich, ab S. 114, erscheint Anschauung in der Kapitelüberschrift, - aber in der Kombination: Erfahrung und Anschauung , als den beiden Vermögen unserer Aktivitäten vor den Werken.
Ehe Anschauung =Aisthesis für die Bild-Hermeneutik fruchtbar gemacht werden kann, thematisiert Bätschmann zwei Erfahrungsbegriffe, den üblichen lebensweltlichen, der Vorgänge erschließt und bestätigt, und Hegels dialektischen Erfahrungsbegriff. Dieser widerlegt bisherige Erfahrung und eröffnet damit neue Erfahrung. Der Prozeß der Erfahrung, so lautet die Binsenweisheit S. 121, ist Tätigkeit des Subjekts. 
S. 125 wird endlich Anschauung thematisiert, als produktive Tätigkeit des Subjekts am Bild, die logisch auf die dialektische Erfahrung folgt und die den Darstellungsprozeß des Bildes erschließt, S. 127, = das, was das Bild als es selbst hervorbringt“, S. 131 – letzteres eine zu-treffende Definition, die aber den Anschauungsbegriff unnötig einengt. Zudem ist die Ableitung der Anschauung aus der dialektischen Erfahrung eine rationalistische Überflüssigkeit.
Der sechste Teil handelt von den Bildprozessen (§§ 46- 55). Beispielhaft wird dargelegt, was das Bild als es selbst hervorbringt. Jeweils einzelne Relationen von Momenten der bildlichen Darstellung werden aufgezeigt, um ein „Instrumentarium der Erkenntnis“ zu gewinnen (S. 132). So werden in Relation gesetzt:

Licht und Schatten   ( als formaler Prozeß einer Zeichnung)

Linie und Figur

Farbbeziehungen 

Komposition, Disposition und Historie.   

Dazu gehört die Frage, inwieweit das Bild aus sich selber spricht, „ was das Bild als es selbst im Unterschied zur vorgegebenen Erzählung im Text hervorbringt“, S. 145.
Text – Bild: inwieweit bildliche Darstellungen textgetreu sind.
Unter der Überschrift Askese der Auslegung, § 55, äußert der Autor den zutreffenden Gedanken, es dürfe nicht nach Bedeutungen von Bildern gesucht werden, die jenseits des Bildes liegen, überhaupt im Jenseitigen das Eigentliche des Bildes zu sehen, S. 154. Diese zutreffende Einsicht, die allerdings nichts mit Askese zu tun hat, dürfte heutzutage auch bei Fachleuten noch nicht allgemein eine Tugend des Umgangs mit Bildern geworden sein.
Insgesamt erscheint der Ertrag mager: In der Isolierung bestimmter Darstellungsmomente wird das bildliche Kunstwerk zum Anwendungsfall für einige rationale Kriterien und kommt damit über den Ansatz von Wölfflin kaum hinaus.
Allerdings wird am Schluß in Überlegungen, Geschichte der Malerei zu schreiben, andeutungsweise das Moment des Individuellen ins Spiel gebracht, das in Relation zu den Regeln gesehen werden müsse, die allgemein ein geschichtliches Verhalten leiten, S. 164 f.

III.

Die folgenden Ausführungen sind in ihrem Ausgangspunkt und Fundament ein Gedächtnis- protokoll von Übungen, die Reinhard Liess  vor etwa 35 Jahren vor Gemälden im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig abgehalten hat, an denen ich als Externer, nämlich Richter am Oberlandesgericht, teilnehmen durfte. Aber nicht nur die Erinnerung daran, sondern an die Vorlesungen und Seminare von Liess in der TU Braunschweig, an seine Schriften, persönliche Begegnungen mit ihm und Briefwechsel erlauben es, von einem Konzept der Bild-Hermeneutik zu sprechen.
Eingeleitet werden muß dieser Hauptteil mit der Darstellung eines Hauptgedankens von Immanuel Kant, der aber aus der naturwissenschaftlichen Erkenntnistheorie herausgelöst,  für die Lebenswelt und die Kunst fruchtbar gemacht werden muß.
Kant beginnt das erste Hauptstück, die transzendentale Ästhetik seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781 mit dem Satz:
Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, es ist doch diejenige…, worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die 
A n s c h a u u n g….Alles Denken …muß sich …zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit…beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann, B 33. 


Bereits 2000 Jahre davor  hatte Aristoteles im ersten Satz der Textsammlung mit dem nachträglichen Titel Metaphysik ( in Buch A) gesagt:
Alle Menschen streben von Natur (phýsei) nach Wissen (eidénai); dies beweist die Freude an den Sinneswahrnehmungen (aísthéseis)… vor allem anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen…weil dieser Sinn uns am meisten Kunde gibt und viele Unterschiede offenbart.                                                                   
Bei Kant heißt es im anschließenden Teil, der transzendentalen Logik: Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus…Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden.
Und nun der berühmte, aber in seiner weittragenden Bedeutung selten erfaßte Satz:
Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind….Der Verstand vermag nichts anzuschauen und die Sinne nichts zu denken, B 74, 75.
Soviel zur grundlegenden Funktion der Anschauung und der Gleichursprünglichkeit von Anschauung und Verstand , dieser bedeutenden Einsicht Kants, nachdem Leibniz die Anschauung als verworrenes Denken und vorher Locke den Verstand nachrangig gegenüber der Sinnlichkeit eingestuft hatten. 
Kants berühmten Satz erläutere ich gern an meinem Paradebeispiel vom Schnee auf dem Kilimandscharo. Als die schwäbischen Missionare das Weiße auf dem Berg am Äquator 1848/49 erblickt hatten, war ihnen sofort klar, daß es sich um Schnee handelt. Sie hatten zugleich den Begriff und die Anschauung von Schnee. Den Eingeborenen, die das Angeschaute für Silber hielten, fehlte der Begriff Schnee. Den Europäern unter Führung des englischen seßhaften Geografen Cooley, die den Missionaren Sinnestäuschung oder Spinnerei vorwarfen, fehlte die leibhaftige Anschauung.
Indes hält sich die Auffassung Kants von der Anschauung im Rahmen der an Newton orientierten naturwissenschaftlich mathematischen Erkenntnistheorie und der rationalen Synthesis von Form (Raum und Zeit)  und Inhalt (Empfindungsmaterial):
In der Erscheinung nenne ich das,  was der Empfindung korrespondiert, die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen geordnet, angeschaut wird, nenne ich die Form der Erscheinung, A20 = B34. Raum und Zeit sind reine Formen (der Anschauung ), Empfindung überhaupt die Materie, A 42 = B60.
Im Bereich der Lebenswelt und der Kunst muß Kants Anschauungslehre phänomenologisch interpretiert werden. Dann bedarf die Anschauung nicht der  rationalen Zubereitung, als Materie den Formen von Raum und Zeit unterstellt zu werden. Sondern die Anschauung ist mit einem Male da, als ein unmittelbar im Bewußtsein auftretendes leibhaftiges  Ganzes, ein unmittelbar erfassendes Aufnehmen von Gestalthaftem in seinem 

leibhaften Sich-Zeigen. Das geschieht nicht  rezeptiv, wie Kant meinte, sondern durchaus als produktive Bewußtseinsleistung. 
In dieser lebensweltlich phänomenologischen Bewandtnis kann Kants Satz von der Zusammengehörigkeit und  Gleichursprünglichkeit von Begriff und Anschauung auch als Leitfaden für Kunstbetrachtungen genommen und in äußerst knappster Form als Kooperation von Auge und Sprache zusammengefaßt werden.
Aber das setzt eine zweite Korrektur voraus. Das Kunstwerk als das Angeschaute ist ja für die Anschauung des Anschauenden bereits das Ergebnis von Gestaltung, eine Steigerung von sinnlich Erscheinendem. Konrad Fiedler nannte es im 19. Jahrhundert  Sichtbarkeitsgestal-tung. In Dingen der Kunst ist die Anschauung somit nicht stets blind. Das Angeschaute der Kunst ist in vielen Bereichen von sich aus aussagekräftig und bedarf nicht stets der Bestimmung durch Sprache oder Begriffe. Man denke nur an Landschaftsbilder und Stilleben. Aber Vieles bedarf der Erläuterung. Sonst bleibt es bedeutungsblind.

Meiner Erinnerung nach begann Liess im Herzog Anton Ulrich Museum mit den Bildern von Rubens und Rembrandt, die damals jeweils zusammen hingen. Zum Kontrast erklärte er Bilder im Stil Caravaggios, von manchen  als römischer Naturalismus gefeiert,  die aber bloß eine fragmentierende Wirklichkeitsschau und ein verengtes Menschenbild präsentieren.  
Damals wie jetzt nach 6jähriger Umbauzeit im großen Eingangsraum (1.1)  die beiden Caravaggisten: Von Manfredi die Magd, die Petrus erkennt, der aber leugnet, sowie die Geißelung Christi von Gentileschi. Die Malweise und dementsprechend der Hinweis auf die Sichtweise der Betrachter, das war ein eindrucksvoller Auftakt vor Originalen. Vier Charakteristika hob Liess hervor: Das harte Hell/Dunkel, die nicht frontal, sondern verschattet im Profil oder Halbprofil oder mit gesenktem Kopf dargestellten Gesichter, die Anordnung der Personen auf einer schmalen Bühne im Vordergrund bei gleichmäßig schwarzem Hintergrund,  das Unisono der glatten Oberfläche, auch der Gewänder. Derbe Bauernjungs waren aber nicht in Samt und Seide gekleidet, wie bei Caravaggio.
Im Vergleich dazu zunächst Rembrandts Familienbild (1.3): Hier ist das Hell/Dunkel ein Wert, Licht ist im Schatten, das hindurch leuchtet, an den hellen Stellen gibt es Dunkles. Goldbraun ist das Element der mittleren Ebene, von der es in die Tiefe des Dunklen und in die Helle des Leuchtens geht.
Im Unterschied zu den Impressionisten des 19. Jhdts mit ihrer all over structure ist Rembrandts  Malweise mit unterschiedlichen Pinseln und Spachtel individuell differenziert und bezogen auf das Stoffliche der Kleidungsstücke. Das Blumenkörbchen ist durch Herumrühren in den Farben mit dem Ende des Pinselstiels zustande gekommen. Das Bild spricht für sich: Das ist Familie! Nachforschungen, wer die dargestellten Personen gewesen sind, sind übrigens ergebnislos verlaufen.
Wie starr demgegenüber die Großfamilie von Cornelis de Vos (1.3), alle mit den gleichen Knopfaugen und vier mit den die Hälse umpanzernden Halskrausen.
Die beiden Ovalbilder eines Ehepaares, von 1632 und 1633 mit Rembrandts Signatur (1.7) sind in ihrer geistreichen Malweise als originale Rembrandts zu sehen. Die leichte Schrägstellung des Oberkörpers des Mannes, der gleichwohl fast frontal nach außen blickt, aber dessen linke Gesichtshälfte zum Teil verschattet ist,  und das perspektivische Kunstwerk der Halskrause, die ein Meisterwerk von Durchscheinen auf  den schwarzen Wams, sowie Licht und Schattenspiel ist, sind hervorzuheben. 
Die Ehefrau  wirkt demgegenüber schlichter, aber ebenso geistvoll  gemalt: In beiden Portraits fällt das Licht von links schräg oben ein, infolge der Zuwendung der Frau zu ihrem Ehemann ist ihr Gesicht voll beleuchtet und fast ebenso  ihre Halskrause. Wegen des Lichteinfalls ist der Bildentwurf ein anderer, aber keine Vereinfachung gegenüber dem Porträt des Ehemannes. Zwei geistvolle Einzelheiten beim Bild der Ehefrau sind noch zu nennen: Die Knopfreihe ihres Gewandes, unterbrochen durch die Halskrause,  findet einen Endpunkt als  Glanzpunkt auf ihrer Nasenspitze. Und bemerkenswert auch die präzis gesehene  und gemalte Kopfhaube, die im Unterschied zur linken nicht an der Wange anliegt, sondern einen Zwischenraum zwischen rechter Wange und einem Zäpfchen der Kopfhaube offen läßt.
Rembrandts Noli me tangere (1.9): Berühre mich nicht, ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater im Himmel, gibt Christus, noch mit dem am Körper hängenden Leichentuch,  eine überirdische Erscheinung. Rot ist nur die Brustwunde und sind die Lippen der knieenden und zu Christus aufblickenden Maria Magdalena. So ist Malerei zugleich geistreich und sinnlich!
Das fünfte, die Gewitterlandschaft (1.9), zeigt Rembrandts typische Farbgebung, dem mittleren Gelb-Braun, das einerseits zu leuchtendem Hellgold, andererseits zu drohenden Gewitterwolken wird, die aber typischerweise das Helldunkel als einen Farbwert zeigen.
Die Besprechung der Rubensbilder begann Liess mit dem knorrigen unbekannten Mann (1.11) im schwarzen Rock, der weißen Halskrause und dem zerzausten Bart, der fast frontal zu 3/4 seiner Größe standfest,  selbstbewußt, raumausfüllend, in einer Gebundenheit von temperamentvoll und beherrscht im Bild erscheint. „Fast frontal“: Er steht in einer ganz leichten Drehung, die Arme ahmen den Kontrapost nach. Die linke Hand hält einen Handschuh ( so schon Tizian) hart am unteren Bildrand und scheint sich auf diesen abzustützen, die rechte Hand, entsprechend dem Spielbein, umspielt die Lehne eines leicht schräg gestellten Stuhles. Diese Dreieranordnung von Kopf und Händen, auf die das Licht fällt, stammt von Tizian. Das Gesicht des Mannes, nach Rubensscher Art mit leicht wässrigen Augen, gehört zu den eindrucksvollsten, Inneres offenbarenden Physiognomien, die je gemalt worden sind. So etwas wie die malerische Gürtelschnalle, ein reines Lichtphänomen, mit einigen Pinseltupfern hervorgebracht, haben spätere Maler in anderen Darstellungen zu ihrer Verzweiflung nicht hinbekommen.
Sodann Rubens Portrait von 1627 des Marchese Ambrogio Spinola (1.4), des Genuesers in spanischen Diensten und  Siegers der Einnahme von Breda in Nord Brabant, über die Velasquez für die Spanier eines der populärsten Bilder im Prado in Madrid gemalt hat:  Las Lanzas. 
Spinola steht mit friedlich blickendem Gesicht, leicht schräg etwas hölzern mit militärischem Brustpanzer und ziviler Halskrause angetan, die linke Hand nahe der Unterkante des Bildes am Griff des Degens, die rechte, etwas abgewandte Hand ganz leicht auf den Marschallstab gestützt. Der braun bis dunkelbraun  gemalte Brustpanzer ist mit dem Goldenen Flies eine bildreiche Veranstaltung. Es gibt verschiedene Rottöne: dasjenige von der um den linken Oberarm gebundenen Schärpe, und an den rechten Arm angrenzend das in den offenen Helm gelegt Rot, darüber ein roter Helmbusch, sowie das bortenartig unten aus dem Brustpanzer hervorkommende Rot. Eine Einzelheit unter den Lichtreflexen auf dem Brustpanzer hob Liess besonders hervor: Ein grellweißer, nach unten zugespitzter Lichtschein läuft zur Hälfte unter der Kette des Goldenen Flieses entlang, wird also von der Kette verdeckt. Dies als Symbol der inneren gläubigen Überzeugung des Heerführers, der sich zugleich als Weltmann präsen-tiert.
Herrlich ist der Kontrast zu einem Bildnis des Braunschweiger Herzogs Christian von Moreelse daneben, einem Ritter, Räuberhauptmann, Haudegen und wohl unmittelbarem Gegener des Spinola im 30jährigen Krieg, der knapp 27jährig in Wolfenbüttel starb.
Rubens Judith  (1.4) hat die erste ausführliche Würdigung in Liess‘ Habilitationsschrift Die Kunst des Rubens von 1977 nach drei kurzen Erwähnungen von anderen erfahren, als eines der Höhepunkte der Kunst des Rubens. Das Bild, das Liess auf 1614 datiert,  ist offenbar lange im Besitz von Rubens geblieben, denn es ist von ihm Jahre später um eine waagerechte Holzleiste nach unten verlängert und im Bereich der Dienerin, die in der rechten Hand eine Kerze hält, übermalt worden , damit die Kerze nicht den herunter hängenden Ärmel des linken Armes der Judith erfaßt. Das Bild schildert die Situation nach dem Höhepunkt der apokryphen Geschichte: die schöne junge Witwe aus Betulia  gelangt durch eine List in das Heerlager assyrischer Angreifer und wird dort am vierten Tag in das Zelt des Feldhauptmanns Holofernes gebeten. Sie schlägt ihm das Haupt ab, als er betrunken eingeschlafen ist. Später  läßt sie das abgeschlagene Haupt an der Stadtmauer von Betulia nach außen aufhängen und erreicht so am nächsten Morgen die panische Flucht der Angreifer. 
Das Bild ist in seiner anschaubaren Mehrdeutigkeit einmalig. Die Judith ist Mörderin, Retterin ihrer Stadt und Liebende in einem. Die noch glühenden Ringe unter ihren Augen und ihr zugleich nachdenklicher, nach innen gekehrter Blick zeugen von der Entschlossenheit ihrer Rettungstat für ihre Stadt und zugleich für die Trauer, den getötet zu haben, in den sie sich augenscheinlich verliebt hat. Ihre langgestreckte Rechte hält das Schwert der Tatausführung von sich weg, als wolle sie die Tat nicht wahr haben. Ihre angewinkelte Linke drückt kraftvoll, den Haarschopf des Getöteten packend, gegen dessen Stirn, wie zur Bestätigung ihrer Rettungstat. Die Dienerin, im Halbprofil mit edlen Altersfurchen gemalt, packt mit ihrer Linken das abgeschlagene Haupt kraftvoll am Kinn, in der Rechten eine Kerze mit spitz zulaufender Flamme, die wie ein Messer aussieht, um die Gurgel zu zerschneiden. Das Haupt des Holofernes zeigt, daß er ein schöner Mann gewesen ist. Die alte Dienerin blickt auf das Haupt in Gedenken an ihre Jugend, in der sie für den Holofernes „hätte schwärmen können“, wie eine Seminarteilnehmerin das so schön ausgedrückt hat.  
Nun noch ein Apercu aus ganz anderer Warte: Als Liess das Judith-Kapitel seiner Habilitationsschrift schrieb, bat er einen Universitätskollegen der Psychologie, mit ins Museum zu kommen und ihm vor dem Bild ein Psychogramm der Judith zu geben. Der sagte: „Das wird aber teuer“. Denn da müsse er einen Fragebogen entwerfen und im Museum auslegen lassen und könne dann Monate später die Antworten der Besucher auswerten…!
Seit 1974 besitzt das Museum eines der vielen berühmten Modelli des Rubens, eine  kleine Ölskizze Die Anbetung der Hirten (1.11) für ein großes, knapp 5 Meter hohes Bild in der Hofkirche des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm von Zweibrücken-Neuburg an der Donau. Bemerkenswert das scheinbare dynamische Vorwärtsstreben der Hirten, der eine kniend, die anderen gebückt, um das Christuskind zu erblicken. 
Von van Dyck, aus dem Atelier von Rubens hervorgegangen und mit 19 Jahren bereits Meister in der Antwerpener Gilde, ist das Portrait des Lucas van Uffel (1.4)  eines der hervorragenden Beispiele seiner  eleganten Porträtkunst. Aufschlußreich ist der Vergleich  mit Rubens Bildnis des unbekannten Mannes, der jetzt wieder als ein van Dyck bezeichnet wird. Hingen beide Bilder  nebeneinander, so würden Betrachter mit geschultem Augensinn nicht auf die Idee kommen, zwei van Dycks vor sich zu haben. 
 Jordaens, aus der Nachfolge von Rubens, ist mit zwei Werken vertreten, einem großen, wenig erfreulichen Altarbild und einer sehr schönen Anbetung im Hochformat (beide in 1.4) Die anmutige Mutter blickt innig auf das Jesuskind, das in ihren Armen genüßlich und pausbäckig schläft. Ringsum vier junge Niederländer, über den Köpfen der nach oben ausgreifende alte Joseph. Eine etwas störende Einzelheit, auf die Liess hinwies, ist lediglich der am linken Bildrand schräg von hinten gemalte Jüngling, der sich mit dem rechten Ellenbogen auf die Halsöffnung  eines bauchigen Gefäßes aufstützt.

Hier sei eine Zäsur gesetzt und der allgemeinen Erwägungen gedacht, die Liess mitteilte:
• Kunstwerke von künstlerischem Rang sind nicht bloß Abbildungen der Wirklichkeit, als ob diese in Bildern verdoppelt werde. Sie sind Kunstwirklichkeit und haben darin ihre eigene Welt  als Vollendetheiten in sich selbst, wenn sie gelungen sind und sich Kunst und Natur zur Schönheit  steigern und zusammenschließen. Dieser Vorgang beginnt mit einem erfinderischen Entwurf des Künstlers in seinem Bewußtsein, vom Logos der Bilderfindung erfüllt, der zu Schöpfungen führen kann, die nur so im Medium der bildenden  Kunst ausgedrückt werden können. 
• Rubens Judith ist ein solches Beispiel für Kunstwirklichkeit, das die Nachdenklichkeit der beiden Frauen am Tatort thematisiert. In der Realwirklichkeit ist die Flucht vom Tatort das Nächstliegende. 
 Auf Rembrandts Stuttgarter Bild des im mamertinischen Gefängnis in Rom einsitzenden Apostel Paulus ist, ganz im Sinne von Kunstwirklichkeit und nicht in einer realen Gefängniszelle vorkommend,  in der Ecke ein großes Schwert zu sehen.

• In seinem großen Buch: Zum Logos der Kunst Rogier van der Weydens ( Münster 2000), spricht  Liess, soeben schon erwähnt, vom Logos der Kunst, um den inzwischen ausgelaugten Begriff Stil ersetzen zu können. Logos ist eine treffliche Bezeichnung, wenn unter den vielen sie betreffenden Definitionen an den Doppelsinn des Sich Zeigens sinnvoller Ordnung der Dinge und das Aussprechen  und Rechenschaftgeben von dieser Ordnung gedacht wird. Liess formuliert: Logos heißt…die authentische und originale Rede der Kunst, die ihren Bildungen immanente Vernunft… Er ist die geistige Struktur des Werkes in der ihr adäquaten sinnlichen Form, a.a.O. S. 14. 
• Den Gedanken der Kunstwirklichkeit weiterführend ist als wichtiger Grundsatz hervorzuheben: Eine Deutung der Sinnaussage künstlerischer Bildschöpfungen darf nicht an Hand von Erwägungen vorgenommen werden, für die es im Bild keine Anhaltspunkte gibt. Es ist so ähnlich wie in der Text-Hermeneutik: Was in einem Text nicht drinsteht, darf nicht in ihn hineingeheimnist werden. Es gilt Goethes Satz: Man suche nichts hinter den Phänomenen, diese selbst sind die Lehre. Meiner Erinnerung nach bot sich damals keine Fehlinterpretation eines Bildes in unserem Museum, an der Liess einen Verstoß gegen die Goethische Mahnung  hätte vor Augen führen können. 
Als abschreckendes Beispiel nannte er die Deutung von Rubens Raub der Töchter des Leukipp in München, das die Panofsky-Schülerin Alpers als Hochzeitsallegorie ansah, obwohl Kastor und Pollux die beiden Mädchen gewaltsam auf ihre Pferde ziehen wollen.
In seinen Vorlesungen und später in seinem Rogier-Buch gab es eine Fülle von Beispielen, vor allem in Panofskys Ikonologie und dessen Theorem vom disguised symbolisme, wo allen möglichen Gebrauchsgegenständen theologische Bedeutsamkeit angedichtet wird.
Anders ist es, wenn Beschauer den historischen  Zusammenhang nicht kennen, innerhalb dessen der Maler einen Handlungsvorgang für sein Bild auswählt. Dann verstehen sie das Bild erst, wenn ihnen das dem Maler bekannte vorausliegende Ereignis mitgeteilt wird. Insofern gilt hier der selbe Grundsatz wie in der Text-Hermeneutik: Das Erklären geht dem Verstehen voran.
Dazu aus unserem Museum drei Beispiele: Tizians Judith, Isaaks Opferung  und Esthers Überführung des Hamann. Diese Bilder schildern malerisch ein Geschehen, das ohne Kenntnis eines vorausgehenden Geschehens in der Ebene der Profangeschichte, der Dichtung oder der Religionsgeschichte nicht voll verständlich ist und Beschauer dann z.B. nur sehen: junge Frau und alte Dienerin halten einen abgeschlagenen Männerkopf.
• Anschauung und Wahrnehmung werden meistens gleichbedeutend gebraucht. Beide Begriffe sollten unterschieden werden. Anschauung = Aisthesis  ist das unmittelbare Erfassen eines Ganzen, es steht der Theorie als besonnener Betrachtung nahe. Wahrnehmung, mehr dem Bereich der Praxis angehörend, bezieht sich auf Einzelheiten, die innerhalb des Ganzen oft spielerisch miteinander verbunden sind, Grenzen markieren, Übergänge bezwecken, also das Ganze sinnvoll beleben. So erfordert eine eingehende Bildbetrachtung, Ganzes qua Anschauung im Blick zu haben und Einzelheiten wahrzunehmen, die untereinander und auf das Ganze bezogen sind. So sind z.B. die wässrigen Augen des unbekannten Mannes von Rubens oder daß der Lichtschein auf der Brust des Spinola zum Teil von der Kette verdeckt wird, wahrzunehmen. 
Manchmal gibt es auch eine Einzelheit, die die Bildaussage begründet oder dem Bild eine besondere Bedeutung gibt. Cornelis de Vos‘ Vanitas in unserem Museum (1.4) zeigt eine junge Frau kostbar angetan  inmitten von Prunk und Protz, zu ihren Füßen einen gefüllten Geldsack. Vor sich pustet ein Kind eine Seifenblase. So vergänglich wie die Seifenblase kann auch der ganze Prunk sein. Fehlte die Seifenblase, könnte das Bild etwa, wie ich hinzufüge, „reich eingeheiratet“ heißen.
• Bilder miteinander zu vergleichen führt schon bei gleichen Bildthemen zu gesteigerter Eindrücklichkeit. Rubens Judith hat in einem Bild von Tizian (in Detroit) eine ähnliche Vorläuferin mit dem nach unten gestreckten Arm und dem Griff des Schwertes in der Rechten und der linken Hand, die den abgeschlagenen Schädel an den Haaren packt. Aber welcher Unterschied! Die Judith sieht leicht abgewandt nach links mit dem schnippischen Blick eines kleinen Biestes, als sei eine solche Tat für sie eine Routinehandlung. 
Aufschlußreich auch der schon erwähnte Vergleich der Familienbilder von Rembrandt und de Vos und der Militärs von Moreelse und Rubens.
Die Auffindung des drei Monate alten Moses in einem Schilfkörbchen im Nil durch die Tochter des Pharaos und ihres Gefolges, diese uralte semitische Geschichte, erstmals dem späteren König Sargon von Akkad (~2600 v. Chr.), dem Sohn einer Tempelprostituierten zugeschrieben - in unserem Museum fast nebeneinander gehängt (1.1) - haben Lanfranco und der Neapolitaner Cavallino gemalt.
 Lanfrancos Bild ist rührend und liebevoll und schildert  die Auffindungsszene im Bildaufbau so anschaulich und gegliedert, daß man kaum erklärende Worte nötig hat. Im Vordergrund  zwei Mädchen, die das Körbchen aus dem Nil fischen, rechts hart am Ufer die Pharaonentochter mit ihrem Gefolge die Szene anteilnehmend beobachtend, in der Mitte des Bildes etwas erhöht neben einem Baum die ältere Schwester von Moses, die am Ufer nach der Aussetzung aufgepaßt hat, was passiert. Daneben die von ihr herbeigeholte Mutter, in deren Obhut  als vermeintliche Amme das Kind gegeben werden  wird.
Ganz anders Cavallino: Auf den ersten Blick eleganter gemalt, aber dann doch eine langweilige Figurenstaffage, so als habe der Auftraggeber seine Frau oder Geliebte nur in den Mittelpunkt stellen lassen, während das eigentliche Bildthema nur am Rande als kaum erkennbares Beiwerk vorkommt.  

• Bildvergleiche bringen aber auch Erkenntnisgewinne, (man könnte auch sagen: Steigerung des Kunstgenusses, wenn darunter geistig fruchtbare Aneignung verstanden wird), wenn sie Bilder mit verschiedenen Themen und Gestaltungen betreffen und Künstler bildliche Einfälle früherer Meister übernehmen und in individueller Aneignung abwandeln. Das ist dann kein Ideenklau, sondern im Gegenteil eine Verwandlung von Fremd- in Eigenkräfte, eine  Bereicherung der Kunstwirklichkeit mit schöpferischem Gestaltungsreichtum und ein Beispiel für die Vertrautheit der  Nachfolgenden mit den Werken der Kunst der Vorgänger.  Kunst erzeugt Kunst. So hat Michelangelo nach der Entdeckung der Laokoongruppe in Rom im Jahre 1506 Anregungen empfangen für seine weit ausladenden Figuren an der Decke der Sixtinischen Kapelle. Michelangelos Notte in der Kapelle der Medici in Florenz, „in kühlem Stein in sich versunken, in schräger Lage schlafestrunken“ ist von Rubens verwandelt zu Phoibe auf dem Raub der Leukipiden, die sich zu Kastor aufwärts streckt.
• Kunstdarstellung ermöglicht im Unterschied zu diskursiven sprachlichen Texten, die unter dem Verbot des Widerspruchs stehen, Mehrdeutigkeiten  in Einem auszudrücken. Dazu eine berühmte Anekdote: Michelangelo schuf für Papst Julius II. um 1507 eine dreifach lebensgroße bronzene Sitzstatue in Bologna. Die Rechte war erhoben, in der Linken ein Schwert. Der Papst fragte, was die erhobene Rechte besage, ob er Fluch oder Segen austeile. Michelangelo: Wenn das Volk brav ist, segnest du es, wenn es aufmüpfig ist, zürnst du.
Aber schon  nach 3 Jahren, 1511 hat das  Volk die Statue zerstört.
• Schönheit erweist sich nicht nur durch das, was man Oberflächenvirtuosität nennen kann, sondern auch durch ein Scheinen von Innen.  Für dieses braucht nur auf Rubens und Rembrandt verwiesen zu werden. Aber auch schlichte Malerei kann von Innen Schönheit darbringen.  Lanfrancos  Bild in unserem Museum ist auf den ersten Blick ja kein sofort in die Augen fallendes Faszinosum. Aber es ist von der aus Innen kommenden Ausstrahlung ein schönes Bild. 
Die letzten Zeilen eines Gedichtes von Mörike Auf eine  Lampe bringen das zum Ausdruck. Nachdem er die Lampe im Schlafgemach beschrieben hat, heißt es :
Ein Kunstgebild der echten  Art, wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. 

Nun sei zurückgekehrt zu weiteren Erläuterungen von Liess vor den Originalen in unserem Museum:

Die holländische Landschaftsmalerei zeichnet sich durch zwei Merkmale aus:  durch Naturbeobachtung und durch einen bestimmten Typus der malerischen Darstellung. Typus ist das anschaulich herausgearbeitete Gemeinsame von individuellen Einzelfällen.
Ein Höhepunkt sind die beiden Jacob van Ruisdaels in unserem Museum (1.10), in erster Linie das mit den großen Bäumen, die 2/3 des Bildes einnehmen. Sie sind natürlich nicht Blatt für Blatt gemalt, sondern, wie der Fachausdruck lautet, per Baumschlag, d.h. getupft mit Schwämmchen oder Flechten. Das Astwerk des großen Baumes ist dramatisch gemalt, nach links einen ansteigenden Weg überdachend, nach rechts wie krakelig in einen im Mittelgrund stehenden Baum eingreifend, der den im Hintergrund stehenden Wald überragt und mit seinem unteren Blattwerk die Oberkante des Waldes berührt. Dies ein typisches Stilelement: Durch das Berühren von Vorder- oder Mittelgrunddingen an den Hintergrund wird Raumtiefe erzeugt. Rechts ist der Blick auf einen dunkel wolkenbeladenen, aber auch die Szene beleuchtenden Himmel freigegeben, der einen bedrohlichen Wetterumschlag nicht ausschließt. Die große Eiche zeigt wie eine orangefarbene Wunde längs dem Stamm  einen hell beleuchteten Aufbruch der Rinde, der dem Bild einen farbigen Blickpunkt gibt, aber zugleich auf den durch freigelegtes Wurzelwerk unsicher wirkenden Standort des Baumes neben vermodernden Baumstämmen und aufgerissenes Erdreich hinweist.
Die vier sichtbaren Menschen, eine sitzende Frau im dunkle Vordergrund, die anderen auf den Wegen sind winzig klein; von Menschenwerk zeugt ein Kornfeld, dahinter ein Dorf  mit zwei Turmspitzen.
Die Steigerung, wie Ruisdael die Natur darstellt, ist Kunst, die die Natur nicht verläßt. So läßt sich mit Rilke in Bezug auf Ruisdael von der „großen, teilnahmslosen gewaltigen Natur“ sprechen. Sie  kümmert sich in ihrer Erhabenheit, in ihrem Entstehen und Vergehen nicht um die Menschen, der Mensch muß sich um die Natur kümmern.

Im folgenden Semester begann Liess mit den beiden römischen Landschaftsbildern (1.6) des 1554 in Amsterdam geborenen, aber seit 1574 in Rom lebenden Paul Bril. Sie sind wohl 40-50 Jahre vor den Ruisdaels entstanden, um 1608. Die Landschaft ist zugleich der Betätigungsraum der Menschen, des aktuellen und  des antiken mit klassischen  Ruinen und Trümmern.
  Im Bilde mit Ruinen des Forum Romanum, dem damaligen Campo Vaccino hat ländliches, volkstümliches Leben inmitten der Ruinen Einzug gehalten, mit Viehherden,  u.a. einer Schafherde auf einem Weg, der später diagonal nach links in den Mittelgrund führt. Links ragt bis an die Bildoberkante der Rest eines Portikus auf und fast in der Bildmitte eine Gruppe von drei antiken Säulen. Dadurch entstehen senkrechte Gefache, durch die hindurch, vorbei an diagonalen Wegen,  die bebaute Landschaft des Hintergrundes zu sehen ist, die Bauten wie die Peterskirche, die Engelsburg und den Dom in Florenz erkennen läßt.
  Das zweite Bild mit einem Wasserfall ist nicht so sehr vollgestellt mit Gegenständen. Es gibt zu ¾ einen freien Ausblick auf einen von rechts oben nach links fließenden Wasserfall und einen Berg dahinter, der im Stile von Elsheimer gemalt ist. Im Vordergrund wieder Menschen und Tiere inmitten antiker Ruinen,  die von der Natur überwachsen sind. Geradezu irreal dargestellt ist ein bewachsener Felsen, der auf einer antiken Säule steht.
Das kleine Bildchen auf einer Kupferplatte von Elsheimer ( in Frankfurt 1578 geboren und schon 1610 in Rom gestorben) , das Liess „ein empfindliches und tiefsinniges Wesen“ genannt hat, stellt eine stimmungsvolle Landschaft voll Licht und Himmel dar und ist nur mit den Farben gelb und blau und der Mischung beider gemalt (1.15.) Links im Bild in einer dunklen Bergzone ist eine übermalte Figur sichtbar, die Rätsel aufgegeben hat: vielleicht die Deklaration einer Landschaft ohne Götter?
Das entzückende kleine Bild Der Überfall von 1623 von Esaias van de Velde (1.7) schildert in einer Furt den Überfall auf einen Planwagen von Händlern.  Der Räuber-hauptmann sitzt auf einem Schimmel, vor ihm zwei flehentlich Bittende während der Auseinandersetzung anderer mit den Räubern. Ein Überfallener flüchtet auf dem Weg hinter der Szene schräg nach hinten. An den beiden Bildrändern hohe Bäume, die den Blick freigeben in die Weite einer flachen Dünenlandschaft, hinter der halb sichtbar ein Wald oder Buschwerk hervor kommt und entfernt ein Turm ohne Spitze zu sehen ist, d.h. dahinter muß das Meer sein.  Darüber ein weiter, leicht wolkiger heller Himmel, der die Hälfte der waagerechten Bildfläche einnimmt  und dessen Wolkenbahnen von den großen Bäumen berührt werden: die typische Gewinnung der Raumtiefe.  Die Lichtintensität des Himmels ist in der Malerei neu.  Die Helligkeit kehrt wieder am Hinterteil des Pferdes, im Kontrast dazu die Dunkelheit im unteren Teil des linken Baumes. Zur kriegerischen Zeit der Auseinander-setzung mit Spanien paßt ein windschiefes  Kreuz, das über den Wald in der Ferne hinausragt, und rechts im Bild replikartig ein abgestorbener Baumstamm, der den Baum dahinter kreuzt.
Die Zusammengehörigkeit von Nähe und Ferne der holländischen Malerei  war bereits 200 Jahre vorher vorgegeben durch die van Eycks, Rogier van der Weyden und Pieter
Bruegel d.Ä. Der Hintergrund war nicht ein verschwommenes Nichts, sondern in exakter Feinmalerei genau in die Nähe geholt. Unvergessen, wie Liess das in der Vorlesung an der Pariser Rolin-Madonna des Jan van Eyck vorführte und was hier nur angedeutet werden kann: Zwischen den sich in einer säulengeschmückten Halle gegenüber sitzenden Personen, der Madonna mit dem Kind und dem kniend betenden Kanzler Rolin öffnet sich der Raum nach vorn= draußen und gibt zwischen den Köpfen der Madonna und des Kanzlers durch säulengetragene Arkaden den Blick frei in eine weite Welt mit Fluß, rechts und links davon durch eine Brücke verbunden eine Stadtansicht mit großen Gebäuden und  Kirchen, sowie bewaldeten Hügeln und Feldern bis hin zu einem fernen Gebirge.
Im Anschluß an Esaias van de Veldes Überfall sind drei kleine Bilder in unserem Museum lehrreich (1.7):
Zunächst die Dorfstraße von de Bilt (1623) von Jan van Goyen, der, nur wenig jünger als Esaias van de Velde, aber dessen Schüler in Haarlem gewesen ist. Die bunte dörfliche Szene spielt inmitten von etwas spargligen Bäumen und dazwischen verteilten Häusern, deren Dächer an das Blattwerk der Bäume zu greifen scheinen. So ist ein geräumiger Mittelgrund geschaffen, durch die Vielzahl der Gegenstände aber ein Durchblick durch die Gefache in die Ferne fast ganz verbaut. Gleichwohl hat das Bild malerische Atmosphäre.  
Einige Jahre später hat sich van Goyen von dem Zuviel der Gegenstände befreit. Auch die rahmenden Bäume sind weggelassen, wie auf der flachen Dünenlandschaft mit Ziegen. Man schaut ins Offene. Auf fast zu 2/3 der waagerechten Bildfläche ein wetterbewegter Himmel, der momentan den Vordergrund beleuchtet. Dort ein Hirte mit Ziegen,  dahinter die windschiefen hölzernen Reste offenbar eines Schuppens, die unter Regen und Wind gelitten haben. Links winzig einige Dorfbewohner im Gespräch, von dort ein Ausblick ins Weite, kaum sichtbar ein Hausdach mit Schornstein. 
Ähnlich Pieter de Molijns Dünenlandschaft mit Baumgruppe undPferdewagen.
Diese Hommage à Reinhard Liess erinnert nur an einen Ausschnitt seines weiten kunstgeschichtlichen Feldes, das er in schenkender Tugend bearbeitet hat und noch bearbeitet.
Zur Malerei sei außer seinem Rubensbuch  hingewiesen auf sein großes Werk zu Rogier van der Weyden und van Eyck . Eine umfangreiche Forschungsarbeit (1979 – 1982 veröffentlicht) betrifft die kleinen Landschaften Pieter Bruegels. Ein anderes weites Feld ist die romanische und gotische Architektur  mit den Glanzpunkten seiner Forschungen zur Westfassade des Straßburger Münsters und hervorgehoben sein Buch: Goethe vor dem Straßburger Münster – Zum Wissenschaftsbild der Kunst von 1985. 2003 erschien sein herrliches Velázquez-Buch 
Im Spiegel der >Meninas<  und 2004 erschienen drei Studien zur niederländischen Kunst, von denen die  erste Vermeer van Delft zum Thema hat.
  Für seine in Braunschweig abgehaltenen Vorlesungen in vollem Hörsaal, darunter mit vielen älteren Besuchern,  stand ihm ein großer Bestand von Dias zur Verfügung.
 Viele hat er selber fotografiert.                            Braunschweig , im März 2017