Roerich Gesellschaft Deutschland e.V.

 
 


Dieter Miosge

Von der Einfachheit der Beispiele


Einem Geburtstagsbrief , in dem es um Kunst und Schönheit, Ratio und Aisthesis ging, lagen als Beispiele drei verschiedene trockne Pflanzenblätter bei. Am Ende eines nachfolgenden Telefongesprächs sagte der Gratulant, ich solle aber nicht erzählen, er habe mir zum 80. Geburtstag drei trockene  Baumblätter geschenkt.
Ich bin immer wieder entzückt von diesem Bonmot.
Das träfe ja genau die geistige Situation der Zeit. Baumblätter sind Baumblätter und nichts außerdem, allenfalls für Überlegungen wichtig, ob sie vorzeitig vertrocknet und von Insekten befallen sind. Darin erschöpft sich gemeinhin heutzutage die eindimensionale Rationalität und selbst ein so goethisch durchdrungener Mann wie Heinrich Rickert hat vor 100 Jahren Pflanzenblätter nur hinsichtlich ihres Braunwerdens im Herbst als Beispiele dafür genommen, daß gegenüber der sinnlichen, in stetem Wandel befindlichen Natur die Welt des Geistes in Form von starren, ja überzeitlichen Begriffen auftreten müsse.  In diese Linie paßt sogar noch Hegel, der angesichts der unendlichen Variationen von Schmetterlingen der (absoluten)  Vernunft quasi vorwarf, die Idee nicht festgehalten zu haben. Das entspricht der transzendentalen Auffassung,  die unübersehbare Mannigfaltigkeit durch Begriffe zu ordnen und geistig zu organisieren. Das ist ja nicht falsch, aber aus metaphysischer Erstarrung herauszulösen, wenn  Begriffe aus den Erfordernissen der Zeit heraus  verworfen oder wieder umgearbeitet werden müssen. 
Demgegenüber liegt die Bedeutung der einfachen Beispiele verschiedener Baumblätter, eines ovalen fast glattrandigen, eines spitz zulaufenden mit gesägtem Rand, eines fingerartig gelappten mit zapfenartigen Rändern als Anschauungsmaterial  - darüber sind sich der Gratulant und ich einig- in Folgendem:
Sie alle enthalten komplex drei geistig zu erfassende Momente:
 1) die logische Struktur ihrer Gestaltung, die sich aristotelisch gesagt, als Eidos durch Entelechie entwickelt, goethisch gesagt: geprägte Form, die lebend sich entwickelt,
2) die als Ganzes konkret anschaubare Gestalt, die griechisch morphé genannt werden kann (wobei eidos und morphé oft  Synonyme sind),
3) die je individuelle Abweichung innerhalb von 1 und 2. Hierzu zitiere ich gern  den Brief von Leibniz an die Kurfürstin Sophie von Hannover (31.10.1705), in dem er lobend schrieb, sie habe „den Herrn von Alvensleben im Park von Herrenhausen aufgefordert, zwei Blätter zu finden, deren Ähnlichkeit vollkommen  wäre, und er solche nicht fand“.

Die vorstehenden Aspekte (1) und (2) lassen sich unter dem Begriff Schönheit zusammenfassen,  da diese als „sinnliches Scheinen der Idee“ definiert wird (Hegel) und Idee  bei Aristoteles Eidos heißt.

Das Beispiel  der drei Baumblätter regt dazu an, einiges über die Mißverständnisse des Einfachen zu sagen.
 Manche um Klarheit und Verständnis Bemühten treffen auf wichtigtuerische Kritiker. Klassisch ist die Geschichte aus der Familie Mendelssohn/Hensel aus dem Umkreis des Gauß-Nachfolgers Dirichlet in Göttingen.  Dessen befreundeter Kollege Jacobi war zusammen mit dem Mathematiker Neumann in Königsberg auf dem Rückweg nach einem populären Vortrag eines Dritten astronomischen Inhalts. „Wie kann uns Bessel solche Sachen erzählen, die sich doch längst jeder an den Schuhsohlen abgelaufen hat“, sagte Neumann.  „Ja, lieber Freund“, entgegnete Jacobi, „wenn mir Bessel nicht heute Morgen eine Stunde lang den Vortrag erklärt hätte, hätte ich ihn auch nicht verstanden“.
Jahrzehnte später hatte Paul Hensel, später der legendäre Sokrates von Erlangen,  Gelegenheit, diese Replik zu wiederholen. Der Philosoph Wilhelm Windelband hielt in Straßburg im Jahre 1894 seine berühmte Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft, in der er unterschied, Naturwissenschaften  verfahren in methodischer Hinsicht nomothetisch, später sagte man generalisierend, und Geschichtswissenschaft idiographisch , Einmaliges betreffend.
Nach dem Vortrag sagte ein Begleiter zu Hensel: „Das war doch banal, was uns Windelband da geboten hat“. Hensel erwiderte genüßlich: „Wenn mir Windelband gestern Nachmittag seinen Vortrag nicht erläutert hätte, hätte ich ihn auch nicht verstanden“ – was offenbar strategisch gespielte  Ironie war,  denn schon vor dem Nachmittagsspaziergang, falls er stattgefunden hat,  war das Vortragsthema das Gedankengut beider.
Hensels Schüler Hermann Glockner  hielt 1965 in Braunschweig  einen brillanten Vortrag für Hörer aller Fakultäten über die Technik im System der Philosophie, über Poiesis bei Aristoteles und Kant mit dem Beispiel von Galileis schiefer Ebene zur Erforschung der Fallgesetze. Hernach kam ein Physikprofessor auf ihn zu und sagte: „Aber Herr Kollege, es gibt doch heutzutage viel komplizierter Beispiele!“ 
Glockner war ob so viel Dummheit entsetzt. Er hielt es mit seinem Lehrer Rickert, man solle wenn möglich nur einfache Beispiele wählen, - wie Rickert es getan hat, dessen heute noch bewunderte Abhandlung  Das Eine, die Einheit und die Eins  als Beispiel 1+1=2 zugrunde gelegen  hat.
 
Zurück zum Thema Kunst und Schönheit.
Unter allen Lebewesen ist der Mensch das einzige, das Naturschönheit erfassen kann.
Der  Gedanke, die Formenvielfalt in der Natur könne der  menschlichen Anschauung zuliebe da sein, sollte nicht als teleologische Deutung (d.h. vom Endzweck her den Menschen betreffend) gesehen werden; so als ob sich die Formenvielfalt des Schönen eigens zum Entzücken des Menschen entwickelt habe. Aber theologisch ist sie ein Beispiel für das Bibelwort: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“. Dieses Bild kann nicht dasjenige Gottes sein, denn von ihm soll sich der Mensch kein Bild machen. Doch läßt sich sagen, Gott schuf den Menschen so, daß er die Bilder der Naturschönheit erfassen kann, wie sie auch Gott sieht.

 Das Naturschöne als Vorlage für das Kunstschöne drückt sich bereits in <Mimesis> aus, der schöpferisch an der Natur orientierten künstlerischen Darstellung. Aber die Übersetzungen Imitation und Nachahmung klingen zu sklavisch und nicht schöpferisch genug.

Während wir Überlegungen über Kunst und Schönheit anstellen, bemühen sich heutige Warenproduktion, Reklameindustrie und Meinungsbeeinflussungsinstanzen, durchaus erfolgreich,  zur Normalität des  Häßlichen  und des Belanglosen zu erziehen.
Um nicht mißverstanden zu werden: Häßlichkeit gehört zur Realität des Lebens. Nicht alles kann in Schönheit da sein und daherkommen. Aber man sehe sich nur die Fratzen in manchem Kinderfernsehen an oder gehe durch die Spielwarenabteilungen mancher Kaufhäuser. Tätige Mitwirkung kommt auch von Kunsthochschulen, deren  manchmal abstruse Produkte an eine Parole aus der 68er Zeit erinnern, Kunst sei jetzt Kaputtmachen und  Kaputtes machen, einschließlich der „Philosophin“ von Lüpertz, die im Bundeskanzleramt aufgestellt ist ; sowie von Theaterinszenierungen auch klassischer Stücke mit Krach und Klamauk und Nacktszenen.  Ausgenommen sind Statussymbole wie Autos und andere technische Produkte, bei denen auf elegantes Design Wert gelegt wird.

 Die offizielle Schulpädagogik tut seit den 70er Jahren ein Übriges.
 Dazu sei der 2002 verstorbene Bildungstheoretiker Manfred Fuhrmann zitiert, der die offizielle Ablösung der deutschen Bildungsidee, verkündet  im Strukturplan für das Bildungswesen (1970) und im Bildungsplan von 1973, so beschreibt:
„An die Stelle der überlieferten Kategorien Person, Geist und Kultur traten… Gesellschaft, Einkommen und soziale Gerechtigkeit. Bildung wurde in den genannten Veröffentlichungen nicht mehr als geistiger Prozeß verstanden , der das Individuum zu Selbständigkeit und Freiheit, zur Teilhabe am Kulturganzen und zu …ästhetischen Wahrnehmungen befähigen sollte; sie figurierte nur noch als gesamtökonomischer Produktionsfaktor sowie als individueller Sozialfaktor, d.h. als die die künftigen Konsummöglichkeiten  und den künftigen gesellschaftlichen Status bestimmende Instanz“, Fuhrmann, Bildung (Reclam) 2002, S.52.