Roerich Gesellschaft Deutschland e.V.

 
 

Dieter Miosge    

Ärger über philosophische Texte 

In meiner Glosse vom Augensinn der Richter mache ich mich lustig über die Erhebung eines Sachverständigenbeweises zum Wert einer abhanden gekommenen „Plastik“, ohne daß der Richter bei Anordnung der Beweiserhebung wußte, um was für eine Plastik es sich handelte. Erst durch das Gutachten kam heraus, daß es eine abstrakte Kleinplastik war, die die Mitglieder des Braunschweiger Kunstvereins für den Materialwert von 90 DM erwerben konnten. 
Ähnliches kommt aber auch in der Philosophie vor, wenn über ein abstraktes Thema geredet wird, ohne konkret anzugeben, worum es geht.
Der Satz, Philosophie handle abstrakt von Konkretem, ist in dieser Allgemeinheit zu unbestimmt. Wenn diese Formel gelten soll, darf die Verbindung von konkret Gegenständ-lichem zu abstrakt Theoretischem nicht abgeschnitten werden. Damit ist an eine insbesondere von Goethe aufgestellte Forderung zu erinnern, die in seinem Aufsatz ( etwa 1822/23): Bedeutende Fördernis  durch ein einziges geistreiches Wort ausgesprochen ist: daß mein Denken sich von Gegenständen nicht sondere, …daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sei. D.h., der Bezug zu konkreter Gegenständlichkeit müsse  in theoretischen Abhandlungen in irgendeiner Form, z.B. durch Beispiele aufrecht erhalten bleiben.
So wäre eine Mindestanforderung, daß in Betrachtungen über Kunst von Anfang an klargestellt sei, ob über bildende oder dichterische Kunst gehandelt werde, in meiner Terminologie: über Bild- oder Texthermeneutik. 
Günter Figal, der davon unberührt bleibt,  beschäftigt sich in seinem Aufsatz Kunst als Weltdarstellung (wieder abgedruckt in: Figal, Der Sinn des Verstehens, Reclam 1996, S. 45 – 63) im Anschluß an Gadamer mit dem Anspruch „der Kunst“ auf „Absolutheit dadurch, daß sie über alle geschichtlichen Zeitunterschiede hinweg reicht“. Das Kunstwerk sei seinem Wesen nach geschichtslos (Walter Benjamin). Die absolut gewordene Kunst bedeutet die Freiheit des Kunstwerks von der Geschichte. Als einzig Konkretes nennt Figal das Altarbild, das, wenn es aus dem Kontext des Sakralen heraustritt, überhaupt erst zu einer Kunst wird, die die „Gegenwart der Vergangenheit“ (Gadamer)  zu sein vermag. Man glaubt also zunächst, hier sei von bildender Kunst die Rede -  aber weit gefehlt, gehandelt wird von aller Kunst, auch Dichtung, Musik. Denn  Gadamers Formel von der „essentiellen Gleichzeitigkeit aller Kunst“ bezeichnet das Verhältnis dieser Werke zu ihren Lesern, Hörern und Betrachtern, die  unmittelbar ansprechen und in den Bann ziehen, auch ohne als fremd bestaunt zu werden. „Was als fremd erscheint, muß sich in der Erfahrung des eigenen Deutens, des Auslegens und Verstehens als verständlich erweisen können… Kunstwerke ermöglichen eine andere Erfahrung des Geschichtlichen, die sich weder dem Geschichtlichen ausliefert noch es selbstgerecht auf das Gegenwärtige hinbiegt; deshalb bieten die Kunstwerke eine Erfahrung der eigenen Gegenwart, bei der diese aufgeschlossen wird für das Geschichtliche“.
Kunstwerke stiften einen Zusammenhang zwischen Eigenem und Fremdem, so daß sich sagen läßt,  Werke der absoluten Kunst stellen Welt dar, die als Welterschließung vollzogen wird. Nach einer Erwähnung von Heidegger und dessen Hölderlin-Deutung  sodann die Rückkehr zu Gadamer. Die künstlerische Tätigkeit erschöpft sich nicht im Herstellen, sondern „Kunst ist im Vollzug“. Dichtung und Musikstücke sind Werke nur im Vollzug der Aufführung, jedes Bild kann auch anderes gesehen werden, jede Dichtung auch anders gelesen werden.
Das jeweilige Werk bleibt zwar dasselbe, aber es eröffnet einen Freiraum für mögliche Erfahrungen im Vollzug des Verstehens und Deutens. Spielräume des Verstehens und Deutens „erschließen so die Welt in einem bestimmten Horizont….Nur wo die Werke der Kunst sich von der Welt ablösen…und ihre Absolutheit gewinnen, können sie diese Welt in den Grenzen einer Gestalt erschließen“.
Figal gibt eine pauschalierende abstrakte Darstellung auf einer eindimensionalen rationalen Ebene mit großen Worten wie absolute Kunst, Welterschließung usw.  Nach so viel Abstraktion im luftleeren Raum regt sich der Wunsch nach gegenständlichem Denken, durch das die Phänomene gerettet werden.
Aber die  Vermengung von Text- und Bildkunst folgt demselben Übelstand wie in Gadamers Hauptwerk von 1960: Wahrheit und  Methode. Gadamer thematisiert Kunst pauschal als „Ontologie des Kunstwerks“. Er zieht damit Kunst unterschiedslos auf eine rationale Ebene des Seins und der Wahrheitserkenntnis und wertet Aisthesis als irrational ab. In diesem Sinne heißt Gadamers Hermeneutik ja auch Wahrheit und Methode und nicht Ausdruck (= geistiges Hervorbringen) und Verstehen.  
Gadamer wendet sich gegen zweierlei „Subjektivierung“: 
• gegen diejenige der ästhetischen Kunstauffassung von Kant und Schiller und 
• gegen den Historismus von Schleiermacher und Dilthey, die schöpferische Werke, gleich aus welcher Zeit,  aus dem Erlebnisbereich ihrer Urheber deuten, die empfänglich Verstehende durch Einfühlung würdigen  können, -was oft nicht gelingt.
Gadamer wirft Schiller vor, Kunst als schönen Schein der praktischen Wirklichkeit entgegen-gesetzt zu haben, anstatt deren „ergänzende und ausfüllende Tätigkeit“ zu würdigen. Das ästhetische Bewußtsein sehe allein auf die ästhetische Qualität und abstrahiere von allen lebensweltlichen Umständen. Der Abstraktion auf den schönen Schein, der Kunst unwirklich werden lasse,  stellt Gadamer eine „Ontologie des Kunstwerks“ entgegen, das Wahrheits- und Seinserfahrung verkörpert und einen „Seinszuwachs“ bedeutet, durch den gesteigerte Wirklichkeit entstehen kann.
Gadamer sieht im Spiel die eigentliche Seinsweise der Kunst, charakterisiert im Begriff der Darstellung, die Spiel wie Bild…in gleicher Weise umfaßt und zu einer Verwandlung ins Gebilde führe (was letzteres immer heißen mag).
Von daher liegt die These nicht fern, Kunst erschöpfe sich nicht im Herstellen, sondern Kunst sei im Vollzug. Das mag für Theaterstücke zutreffen, auch für Musikstücke, ist aber in der Pauschalierung unzutreffend. Vor allem ermutigt diese These zu der Freigabe an Interpreten, sich in unzulässiger Weise vom Kunstwerk zu entfernen und sich in Beliebigkeit an die Stelle des Urhebers zu setzen, wie es auf deutschen Bühnen heutzutage mit Nackt- Sex- und Fäkalszenen modern geworden  ist.

 In dem Kapitel: „Die Seinsvalenz des Bildes“, das nach der Seinsart des Bildes fragt,  thematisiert Gadamer im Rahmen seiner einheitlichen Hermeneutik die Bildwerke in ontologischer, nicht in kunsttheoretischer Hinsicht,  um den von ihm als Subjektivität denunzierten schöpferischen Vorgang des bildenden Künstlers auszublenden, den es nach  der bisherigen Hermeneutik- „restaurativ oder rekonstruktiv“- nachzuvollziehen gelte. 
Sodann unterscheidet er Urbild, Bild, Darstellung und Abbild, was auf der eindimensionalen rationalen Ebene erzwungen wirkt. Seine „Ontologie des Bildes“ fragt:
1. nach der Problematik des Ur-Bildes, danach, wie sich dieses vom Abbild unterscheidet und 
2. wie sich der Bezug des Bildes zu seiner Welt von da aus ergibt“.
Ein Bild beziehe sich wesensmäßig auf ein Urbild und sei damit dessen Darstellung, die mehr als ein  Abbild ist. Darstellung ist ein Bild von autonomer Wirklichkeit. Dieser Eigengehalt des Bildes sei ontologisch ein Mehr an Sein, als Emanation des Urbildes.
Unklar ist, wie Gadamer den Begriff Urbild quasi aus dem Hut zaubert.
Alle mündlichen oder schriftlich überlieferten Geschichten, so alle biblischen, sowie Erzählungen und Ereignisse, auch solche, die nie stattfanden,  haben erst die bildenden Künstler ins Bild gebracht. Was soll da Urbild sein? Was, wenn ein Porträt von einer Person gemalt wird, die nicht mehr lebt oder die der Künstler noch nicht gekannt hat. Tizian hat die schöne Isabella von Portugal, die früh verstorbene Ehefrau von Karl V., nie gesehen und erst nach ihrem Tode porträtiert und den jungen Karl V., ehe er ihn zu Gesicht bekommen hatte,  nach der Vorlage eines Bildes von  Jakob Seissenegger porträtiert. Aber wenn „erst durch das Bild das Urbild eigentlich zum Ur-Bilde wird“, soll das wohl (zutreffend) heißen, daß die individuell gesteigerte Wirklichkeit des Bildes zurückstrahlt auf  die vom Künstler dargestellte Person. 
Die vorliegend behandelten Mängel liegen in der Vermischung von Textwerken und Bildwerken, außerdem in der Abwertung von Anschauung und Individualität ( letzteres mit Ausnahme der Portraitmalerei)  als den geistigen Mitteln künstlerischer Bildgestaltung.
Um jetzt nur von Bildwerken zu reden:
 Die These von der Gleichzeitigkeit des Kunstwerks hat natürlich insofern einen Stellenwert, als herausragende (Gadamer sagt: absolute ) Kunstwerke von schöpferischen Meistern die Zeiten überdauern und nicht einer Fortschrittsgeschichte unterliegen, d.h. unabhängig davon aus verschiedenen Epochen nebeneinander bestehen können, man denke nur an griechische Plastiken, solche von Michelangelo und Rodin oder Bilder von Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, Tizian , Rubens und Rembrandt.
Außerdem bedeutet das Anschauen eines Bildes unmittelbare Gegenwart von leibhaftig Sichtbarem. 
Aber Kunstwerke sind deshalb nicht geschichtslos. Im Gegenteil, wie Reinhard Liess brieflich eindrucksvoll  aufzählt:
Die Geschichtlichkeit des Kunstwerks manifestiert sich:
-In dem zwischen Auftraggeber und Künstler (Auftrag und Ausführung), Kunst und Umwelt bestehenden Spannungsfeld,
-im Stoff (Thema), den es zur Darstellung bringt,
-in der Art und Weise, wie in ihm persönliche Lebensumstände und –erfahrungen seines Schöpfers verarbeitet sein können,
-in seiner kunstgeschichtlichen Traditionsgebundenheit (Genus, Stil, Bildtypus, Ikonographie),
-in der Technik und Methode seines Gemachtseins,
-in seiner Konzeption und dem Prozeß seiner verschiedenen Entwürfe und Skizzen implizierenden Planung und Ausführung ,
-in erkennbaren Auswirkungen von Lehrer-Schüler-Verhältnissen,
-in den Wirkungen , die es von sich aus auf das spezifische Kunstschaffen späterer Künstler ausübt,
-in den Dimensionen seiner allgemeinen kulturellen Rezeptionsgeschichte.
 


Der These von der Seinsvalenz ist zu viel Bedeutung zugewiesen, wenn der Bildaspekt zu sehr und der geschichtliche Zusammenhang zu wenig gewürdigt wird.
Dann nämlich läßt sich  diese These etwas ketzerisch und banal nur auffassen  als die simple Feststellung, daß laienhafte Betrachter, denen ein Bild gefällt, es zwar bewundern, ohne es zu verstehen und sich um dessen  geistige Bezüge zu kümmern. 
Dazu ein Beispiel aus der Perspektive des Betrachters: das Braunschweiger Rubensbild vom Feldherrn Spinola, eines Genuesers in spanischen Diensten, des Freundes von Rubens und Siegers im holländischen Breda, mag vielen Betrachtern als wundervolles Bild eines humanen hohen Militärs gefallen und sie fragen nicht weiter. Aber die historische Tiefendimension zusammen mit der „Übergabe von Breda“ von Velázquez  im Prado fördert doch eine verstehende Bewußtseinshinzugewinnung. Oder nehmen wir das herausragende Rubensbild: Judith mit dem Haupt des Holofernes. Ohne die Geschichte, ( die Story) zu kennen, ergibt das Bild, so großartig es malerisch ist, für solche Betrachter nur:  schöne junge und alte Frau, einen abgeschlagenen Männerkopf haltend.
Ohne die langen Ausführungen zum sogernannten Urbild läßt sich klarer und deutlicher sagen: Das gelungene künstlerische Bildwerk bedeutet seine Steigerung der Wirklichkeit im Medium der Anschauung und ist als Kunstwirklichkeit zu kennzeichnen.
Zusammengefaßt:
Texte und Bilder sollen verstanden werden, die ersten durch Lesen und Hören, die zweiten   durch - Anschauen eines Ganzen und Wahrnehmung von Einzelheiten,
- begleitet von der Kooperation von Auge und Sprache, indem das Gesehene beschrieben wird und   man dadurch mehr und klarer sieht. 
- Gegenüber der zweifelhaften  Kennzeichnung der Kunst als geschichtslos und geschichtlich gleichzeitig ist der Begriff <Kunstwirklichkeit> fruchtbar, weil er die Bildkunst in ihrer Eigenständigkeit gut zum Ausdruck bringt.
Durch die Anschauung ist eine neue Dimension zu der rational-diskursiven der Sprache hinzugewonnen. Die Anschauung erfaßt unmittelbar ganzheitliche Gestalt und ist das Medium der bildenden Kunst, ohne auf Rationalität verzichten zu können.
  Juli 2015, August.2017